Süddeutsche Zeitung

Archäologie in Italien:Gräber unter Zement

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Über dem Grab einer Frau erhebt sich ein Fahrstuhl: In Cagliari ist die bedeutendste punische Nekropole des Mittelmeerraums von einem Immobilienprojekt bedroht.

H. Klüver

Wenn Städte vor Schmerzen schreien könnten, müsste man sich in Cagliari die Ohren zuhalten. Den Körper der Regionalhauptstadt von Sardinien hat eine ungebremste Bauwut zerschunden, und seine landschaftliche Schönheit ist in den vergangenen Jahrzehnten vergewaltigt worden. Jetzt bedroht ein zweifelhaftes Immobilienprojekt sogar die punische Nekropole auf dem felsigen Hügel Tuvixeddu.

Das ist die größte Totenstadt aus der Glanzzeit Karthagos, die sich im gesamten Mittelmeerraum erhalten hat. Rund 300.000 Kubikmeter Baumasse sollen sich über dem bislang unberührten Ort am Westrand von Cagliari erheben. Lediglich eine kleine archäologische Ausgrabungsstätte soll frei bleiben; sie wird dann quasi zum Hinterhof einer Wohnanlage mutieren. Daneben aber, auf dem Totenhügel mit seinen frühantiken Grabanlagen, wird ein Stadtpark mit Spielplatz und Fitness-Parcours entstehen. Das Projekt ist von der Stadt Cagliari, von der Region Sardinien und von einem privaten Investor bereits vor neun Jahren beschlossen worden.

Das Ganze ist mit Zustimmung - und das ist eine der vielen Ungereimtheiten in dieser Geschichte - des zuständigen staatlichen Amtes zum Schutz archäologischer Güter geschehen. Der leitende Beamte wurde vor zwei Jahren in den Ruhestand versetzt. Der Versuch, den gesamten Hügel Tuvixeddu zum Schutzgebiet zu erklären, ist durch mehrere gerichtliche Entscheidungen bislang unterbunden worden.

Im April haben rund 1000 Personen eine Menschenkette vor dem Zugang zur Nekropolis gebildet, um gegen die Baupläne zu protestieren - wohl zu spät. Jetzt rächt sich, dass sich bis heute niemand um ein realistisches Alternativprojekt für Cagliaris Totenstadt gekümmert hat, dass niemand Pläne entwickelt hat, wie man auf dem Gelände einen archäologischen Park gestalten könnte, der den ganzen Hügel umfasst.

Der Baugrund auf dem Hügel ist dem Bauherren von der Stadt angeblich als Ausgleich für eine hohe Schadenersatzforderung aus einem älteren Streitfall überlassen worden. In Sardiniens Hauptstadt würden sich die Sphäre der Politik und die des Baugewerbes immer mehr überlagern, sagt etwa der Schriftsteller Giorgio Todde: Er nennt das Ganze eine "gefährliche Konfusion". Giorgio Todde, Autor mehrerer Kriminalromane, die in Cagliari spielen (bei Piper ist etwa "Das Geheimnis der Nonne Michela" erschienen), führt den Besucher durch das im Juli bereits von der Sonne braun gefärbte und teilweise kniehohe Gras auf den Totenhügel. Von oben fällt der Blick auf die Narben und die Wucherungen der Stadt, die Todde, ihrer erbärmlichen Bauqualität wegen, "Bauten ohne Architektur" nennt. Vergeblich träumt Cagliari davon, irgendwann das Barcelona Italiens zu werden.

Dabei könnte die Lage kaum schöner sein. Von den Phöniziern wurde Cagliari im Süden Sardiniens hoch über einer Meeresbucht auf einem Hügelsporn angelegt. Von den Puniern wurde der Ort als Festung ausgebaut und dann von den Römern (die den Hafen von der Lagune ans offene Meer verlegten) übernommen.

Im Mittelalter wuchs der urbane Raum bis zum Hafen ans Meer. Die Trennung in Oberstadt ("Castello") und Unterstadt ("Marina") ist heute noch gut zu erkennen. Die mit EU-Geldern finanzierten Restaurierungen einiger Repräsentationsbauten in der im Zweiten Weltkrieg schwer zerstörten Oberstadt lassen den Geist des "Castrum Karàlis" spüren. Doch drum herum herrscht das urbane Chaos. Statt Planung ist nur die Gier der Bodenspekulation spürbar, und statt Geist triumphiert die Krämerseele.

In der Gemeinde mit 160.000 Einwohnern - 400.000 sind es im Einzugsgebiet - stehen rund 8000 Wohnungen und Büroeinheiten leer. Doch gerade wird längs der Lagune von Santa Gilla, wo der punische Hafen lag, ein Neubau nach dem anderen aus dem Boden gestampft. In wenigen Monaten hat sich das Panorama total verändert: Der freie Blick, den man vom Tuvixeddu aus über die Lagunen- und Salinenlandschaft bis zum fernen Gebirgszug des Monte Santa Barbara, hinter dem abends die Sonne untergeht, hatte, ist heute verbaut.

Der Kalksteinhügel selbst, um den sich die neue Stadt längst herumgewunden hat, bildet die letzte, teilweise noch unbebaute Fläche am Gemeinderand. Größtenteils von der typischen mediterranen Macchia bedeckt gilt Tuvixeddu, wo wilde Orchideen, pralle Kapern und fleischige Kaktusfeigen wachsen, auch Naturschützern als ein landschaftliches Paradies.

Hier haben die Punier vom 6. Jahrhundert vor Christus an ihre Toten in den typischen Schachtgräbern begraben. In einigen Ausgrabungsbereichen kann man die vielen quadratischen oder rechteckigen Einschnitte der in den Felsen gehauenen Schächte gut erkennen; sie bilden den Zugang zu den rund zwei bis drei Meter tiefer gelegenen Grabkammern. Bislang wurden mehr als 2000 Grabanlagen gefunden. Ein großer Teil des rund 67 Hektar großen Geländes ist noch gar nicht erforscht.

"Hier bleibt noch viel zu entdecken", sagt der Archäologe Alfonso Stiglitz im Gespräch. Allein in den vergangenen zwölf Jahren seien mehr als 1100 neue Gräber freigelegt worden. Vom Mittelalter an nutzten Teile der armen Bevölkerung die Grabanlagen auch als Wohnstätten. Im letzten Weltkrieg dienten sie als Zufluchtsorte in Bombennächten.

"Treppenwitz" und "Skandal"

Danach ließ die Stadt das Areal bis auf kleine Ausgrabungsbereiche verkommen. Heute hat es der Bauherr weitläufig absperren lassen, um weiterem "Verfall vorzubeugen". Das Immobilienprojekt wird so zu einer Qualifizierungsmaßnahme erklärt. Stieglitz nennt das einen "Treppenwitz". Und Maria Paola Morittu vom Umweltverband "Legambiente" hält das schlicht für "einen Skandal".

Was sie damit meinen, kann man längs des Viale Sant'Avendrace sehen. Die Römer hatten die Nekropole von den Puniern übernommen und ausgeweitet. Ihre Gräberstraße zu Füßen des Tuvixeddu, der Via Appia vor den Toren Roms vergleichbar, wird heute von nichtssagenden Neubauten der späten neunziger Jahre flankiert. Ein paar antike Monumentalanlagen sind völlig heruntergekommen. Die Gräber, die bei den Bauarbeiten vor zehn Jahren zu Tage traten (rund 400), wurden vermessen, dokumentiert - und dann mit Beton für die Fundamente der Häuser wieder zugegossen.

Bauarbeiter fanden in einem punischen Grab zum Beispiel das Skelett einer Frau, die das eines Kindes im Arm trug. Die Knochen der bewegenden Szene wanderten ins Museum, über dem ehemaligen Grab erhebt sich heute eine Fahrstuhlanlage. Ein ähnliches Schicksal droht vielen der teilweise an den Wänden farbig dekorierten Grabkammern auf dem Hügel. Nur ein kleiner Bereich, höchstens ein Zehntel der Gesamtfläche, soll jetzt als archäologischer Park hinter der geplanten Wohnanlage erhalten bleiben. Und zusätzlich soll eine neue Straße den Hügel genau an der Stelle durchschneiden, an der sich nach Abbau von Kalkstein seit der Antike ein spektakulärer Canyon gebildet hat.

Gegen das Projekt laufen Umweltschützer, Intellektuelle, Wissenschaftlern der Universität Cagliari wie auch Politiker der Oppositionsparteien Sturm. Die im Gegensatz zur Stadt und zur Region links regierte Provinz Cagliari hat gerade in Brüssel den Ausschuss der Regionen des Europaparlaments informiert. Dass man auf dem "heiligen Ort" einer jahrtausendealten Nekropole überhaupt bauen wolle, "so etwas kann nur in Italien passieren", ereifert sich Graziano Milia, der Präsident der Provinz.

Giorgio Todde empfindet "eine Art patriotische Scham", dass man einen Ort "außergewöhnlicher Schönheit hässlichen Wohnanlagen opfern" wolle. Sein Kollege Marcello Fois sagt, dass Tuvixeddu kein Kulturgut von Cagliari, "sondern der ganzen Menschheit" sei. Protest hagelt es aus dem In- wie dem Ausland. "Eine Nekropolis unter Zement begraben", titelte die römische Tageszeitung La Repubblica. Und die Londoner Times sah den prominenten Ort von "rubbish" bedroht.

Eine letzte Hoffnung zur Rettung von Tuvixeddu liegt in dem Versuch, den Hügel nicht unter dem Gesichtspunkt der Archäologie, sondern als Landschaft zu schützen. Im geradezu babylonischen Ämterwirrwarr der verschiedenen Abteilungen des Kulturministeriums setzt sich die Regionalleitung der Kultur- und Landschaftsgüter von Sardinien mit ihrem Direktor Elio Garzillo vehement für den Erhalt der Nekropole ein.

Garzillo erinnert an den Artikel 9 der italienischen Verfassung, der den Schutz der Kultur- und Landschaftsgüter über alle anderen - auch öffentlichen - Interessen stellt. Doch der Artikel, so Elio Garzillo zur SZ, werde im ganzen Land "laufend mit Füßen getreten". Sein oberster Dienstherr, Kulturminister Sandro Bondi, hat dagegen aufgerufen, einen Kompromiss zwischen den Interessen der Betreiber des Immobilienprojektes und den Schützern von Tuvixeddu zu finden. Vielleicht sollte ihm jemand mal die italienische Verfassung schenken.

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SZ vom 21.07.2009/beu
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