Süddeutsche Zeitung

Unternehmer:Gründer mit Hintergrund

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In Deutschland machen sich immer mehr Menschen mit ausländischen Wurzeln selbständig. Mit ihren Unternehmen schaffen sie 2,3 Millionen Arbeitsplätze. Das hängt auch mit dem Arbeitsmarkt zusammen - aber nicht nur.

Von Carina Seeburg

Eigentlich sei er zu alt gewesen, um noch einmal in die Schule zu gehen, sagt Halil Azap über die Zeit, als er mit Mitte Vierzig noch einmal die Schulbank drückte. "Das waren sehr harte Jahre für mich", sagt er nachdenklich. Denn neben der Ausbildung zum Stuckateur habe er in dieser Zeit voll gearbeitet. Nicht nur für sich, sondern auch für seine Frau und die beiden kleinen Kinder. Gelohnt hat sich die Mühe allemal: Heute führt Halil Azap eine erfolgreiche Firma für Fassadendämmung. Zwölf Mitarbeiter, ein gehobener Kundenstamm. "Der Wille macht alles möglich, wenn man Ziele hat", sagt Azap, der 1993 als junger Mann aus der Türkei ins Ruhrgebiet kam. "Ich hatte Glück, aber geschenkt wurde mir nichts", sagt er, denn seine Abschlüsse waren in Deutschland wertlos, und so habe er sich über zwei Jahrzehnte hochgearbeitet - vom Bauhelfer zum Vorarbeiter, bis er 2013 schließlich sein eigenes Unternehmen gründete.

Auch Boreal Light ist so eine Erfolgsgeschichte. Ein junges Berliner Unternehmen, das mit solarbetriebenen Entsalzungsanlagen bezahlbares Trinkwasser zu den Ärmsten bringt. "Es gibt Orte auf der Welt, da ist sauberes Wasser ein Luxus, den sich kaum einer leisten kann", sagt Ali Al-Hakim, der das Unternehmen gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Hamed Beheshti gegründet hat. Al-Hakim weiß, wovon er spricht, denn er hat viele dieser Orte selbst gesehen.

Erfolgsgeschichten von Gründern mit ausländischen Wurzeln sind keine Seltenheit in Deutschland: Die Zahl der Selbständigen mit Einwanderergeschichte hat sich seit 2005 um rund ein Drittel auf fast 800 000 erhöht, das geht aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung hervor. Auch die staatliche Förderbank KfW kommt in ihrem jährlich veröffentlichten Gründungsmonitor 2020 zu dem Ergebnis, dass dieser Anteil im Jahr 2019 auf rund 26 Prozent gestiegen ist. Etwa jede vierte Existenzgründung geht demnach auf Menschen mit Migrationshintergrund zurück.

Das Klischee, dass darunter vor allem Dönerbuden und einfache Läden fallen, sei aber überholt, denn das Profil dieser Unternehmer ändert sich. Während 2005 noch 38 Prozent der Selbständigen mit Zuwanderungsgeschichte ihr Glück im Handel oder der Gastronomie suchten, so waren es 2018 nur noch 25 Prozent. Stattdessen führen sie immer öfter Baufirmen, Dienstleistungsunternehmen oder innovative Firmen in wissensintensiven Branchen. So wie das Ehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin, die mit ihrem Unternehmen Biontech in diesem Jahr einen Corona-Impfstoff in Rekordtempo entwickelt haben. Oder eben die weniger bekannten Firmen von Halil Azap oder von Ali Al-Hakim und Hamed Beheshti.

Die fehlenden Gründer von heute sind die fehlenden Firmen von morgen

"Gründungen sind sehr wichtig für die Erneuerungskraft und Wettbewerbsfähigkeit und somit auch für die Zukunft einer Volkswirtschaft", sagt Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW. Deutschland profitiere daher enorm von den Gründungen durch Migranten, denn die Studien belegen auch, dass die Zahl der Selbständigen ohne Zuwanderungsgeschichte seit 2005 drastisch gesunken ist. Auch im internationalen Vergleich sollten hierzulande durchaus mehr Unternehmen an den Start gehen, meint Köhler-Geib. Denn die fehlenden Gründer von heute seien die fehlenden Unternehmen von morgen. Konkret bedeute das weniger Wachstum, Innovation und Beschäftigung.

Rund 2,3 Millionen Beschäftigte arbeiten inzwischen in Firmen von Menschen mit Einwanderergeschichte. "Die Zahlen zeigen auch, dass diese Menschen in Deutschland niemanden einen Job wegnehmen", erklärt Armando García Schmidt von der Bertelsmann-Stiftung, "stattdessen schaffen viele von ihnen neue Arbeitsplätze". Einer davon ist Halil Azap.

Als Kind eines türkischen Gastarbeiters, der in den Sechzigern nach Deutschland gekommen war, wuchs Azap in zwei Ländern, zwischen zwei Welten auf. In der Türkei geboren, kam er als Kind nach Deutschland, nur um das Land ein paar Jahre darauf wieder zu verlassen. Seine ersten Schuljahre verbrachte er in einer Grundschule im Ruhrgebiet. Eine schöne Zeit für Azap, dann aber musste er sich abrupt von seinen Freunden verabschieden. Denn seine neue deutsche Heimat war nie zu der Heimat seiner Eltern geworden. Die Sehnsucht nach der Türkei war groß, und so gab sein Vater den gut bezahlten Job bei der deutschen Bahn wieder auf.

Seine Abschlüsse wurden in Deutschland nicht anerkannt

"Zurück in der Türkei war ich immer ein Deutscher", sagt Azap. Er machte die Schule fertig, absolvierte seinen Militärdienst und machte eine Berufsausbildung zum Installateur - dann, mit 25 Jahren, reiste er zurück in das Land, in dem er seit seiner Kindheit leben wollte. "Ich habe eine deutsche Mentalität", sagt er, "aber für viele bleibe ich wohl für immer ein Ausländer". Das Problem kenne jeder, der mit dunklerer Haut und einem fremdklingenden Nachnamen in Deutschland lebt.

Den ersten Rückschlag erlebte Halil Azap, als seine Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt wurden und er sich als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle wiederfand. Der Weg bis zur Selbständigkeit war lang und holprig, "aber ich hatte unterwegs auch viel Unterstützung, zum Beispiel von Lehrern an der Abendschule", sagt Azap. Diese hätten ihm geholfen, einen ordentlichen Businessplan für sein Unternehmen zu erstellen. "Trotzdem wollten mir später viele Banken keinen Kredit geben", erinnert er sich. "Ich habe bei null angefangen, brauchte Maschinen, Fahrzeuge, Werkstatträume und natürlich gute Mitarbeiter". Also sei er hartnäckig geblieben und habe am Ende gleich zwei Kredite bekommen. "Dass es eines Tages so gut laufen könnte, das hätte ich nie gedacht."

So unterschiedlich wie ihre Geschichten, sind auch die Gründe, warum Menschen sich selbständig machen. "Einige Aspekte treffen aber auf Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig zu", sagt Fritzi Köhler-Geib. Schlechtere Arbeitsmarktchancen wegen fehlender oder nicht anerkannter Abschlüsse sowie Probleme mit der Sprache gehören dazu. "Die Zahlen zeigen außerdem, dass die Vorbildwirkung bei diesen Gründungen eine besonders große Rolle spielt", erklärt Köhler-Geib. So liege der Anteil von Personen mit selbständigen Bekannten oder Verwandten 2019 in der gesamten Erwerbsbevölkerung bei 58 Prozent, bei Gründern mit Migrationshintergrund aber nur bei knapp 50 Prozent. Dennoch war unter ihnen die Anzahl derjenigen, die angaben, Rollenmodelle zu haben, in Relation zum Basiswert klar höher als bei der Gesamtbevölkerung.

Hinzu komme eine niedrigere Risikobereitschaft sowie die zögerliche Gründungsmentalität der Deutschen. "Das hat natürlich auch immer was mit der Arbeitsmarktlage zu tun", sagt Köhler-Geib, dieser habe sich in den vergangenen Jahren stark entwickelt. Wem eine sichere Festanstellung winkt, der entscheidet sich seltener fürs Unternehmertum. Dass die Anzahl an Unternehmern mit Einwanderergeschichte zunimmt, während sich in der übrigen Bevölkerung ein negativer Trend abbildet, hänge somit an vielen Faktoren, es liegt aber auch daran, dass der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund stark zugenommen hat. Und immer häufiger finden sich unter den Gründungen von Menschen mit Einwanderergeschichte auch innovative Unternehmen wie das Berliner Start-up Boreal Light.

"Unser Ziel ist es, das Leben der Menschen in armen Regionen der Erde besser zu machen", sagt Ali Al-Hakim. Dann rechnet er vor: "In Kenia beispielsweise kosten 20 Liter Trinkwasser im Supermarkt vier bis fünf Dollar, und für einzelne Flaschen geht der Preis bei einem Dollar los". Das können sich nur sehr wenige leisten. Sie trinken daher verschmutztes Wasser, das häufig Krankheiten verursacht. "Mit unseren Anlagen wird der Preis massiv gesenkt, denn wir haben fast zwei Jahre daran gearbeitet, bezahlbare Entsalzungsanlagen zu entwickeln", erklärt Ali Al-Hakim.

Das Wasser der Anlagen ist somit wesentlich billiger als das Trinkwasser, das die Menschen im Supermarkt kaufen können. Dabei ist die Technik eigentlich nicht neu, die Berliner haben lediglich das Verfahren vereinfacht: Jede Schraube könne ausgetauscht, jedes Rohr mit Werkzeug und Material repariert werden, das es überall auf der Welt gibt. Und weder Benzin, noch eine Batterie treibt den Literpreis hoch, denn der Strom kommt von Sonnenkollektoren auf dem Dach.

Kennengelernt haben sich die beiden Erfinder der Wasserkioske bei einem Forschungsprojekt in Berlin. Doch schon bevor sich ihre Wege in Deutschland kreuzten, hat jeder der beiden einen weiten Weg zurückgelegt. Der von Ali Al-Hakim begann mit der politischen Flucht seiner Eltern aus dem Irak.

"In Deutschland bin ich dann in der fünften Klasse der Hauptschule von Neuwied gelandet", erzählt Al-Hakim von seinem Start im neuen Land. Und da sei er auch in der sechsten Klasse noch geblieben. Dann aber habe seine Klassenlehrerin sich für ihn eingesetzt. Er gehöre aufs Gymnasium, habe sie gesagt. "Sie hat mich sehr unterstützt, das habe ich bis heute nicht vergessen", sagt Al-Hakim. Und die Lehrerin sollte recht behalten: Bis zum Abitur wird Ali Al-Hakim zum Einser-Schüler.

Nur eine Crowdfunding-Aktion machte den Erfolg möglich

Sein Geschäftspartner, Hamed Beheshti, ist nicht weniger begabt: Der gebürtige Iraner hat Elektrotechnik in Ostasien und in Beirut studiert, nach Berlin kam er für seine Doktorarbeit. Gemeinsam bündeln sie viel Know-how, "unser Problem war einfach das Kapital", erklärt Al-Hakim. Sie seien zu vielen Banken gegangen, aber es habe lange gedauert, bis sie einen Kredit bekamen. Nur eine Crowdfunding-Aktion konnte diese Phase überbrücken.

Schon heute versorgen Wasserkioske von Al-Hakim und Beheshti Tausende Menschen in Kenia, Somalia und dem Jemen. Und es werden jeden Monat mehr: Während Al-Hakim all das an einem trüben Morgen im Dezember erzählt, werden zeitgleich fünf Kioske für den Jemen verschifft und sein Geschäftspartner Hamed Beheshti sitzt im Flugzeug nach Kenia, wo Boreal Light drei neue Anlagen für Krankenhäuser installieren will.

"Das Unternehmen wächst", sagt Al-Hakim zufrieden. In Berlin arbeiten inzwischen 14 Festangestellte für Boreal Light, und mit jeder installierten Anlage kommen zwei Mitarbeiter für die Bedienung vor Ort hinzu. "Mehr als 60 afrikanische Familien leben inzwischen von diesen Gehältern." Am schönsten sei aber zu sehen, was die Wasserkioske vor Ort bewirken. Denn neben Trinkwasser könne Fischzucht und Gemüseanbau betrieben werden. Und gerade in abgelegenen Regionen seien die Standorte auch Treffpunkte mit Bibliothek, Ladestationen und nicht selten das einzige Licht in der Nacht. "Wir verändern das Leben Tausender Menschen zum Guten", ist sich Al-Hakim sicher.

Auch in Deutschland erfüllen Gründungen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Funktionen, erklärt Armando García Schmidt von der Bertelsmann-Stiftung. Obwohl ihre Anzahl abnimmt, gründen Menschen mit Migrationshintergrund weiterhin auch viele Läden in Gastronomie und Einzelhandel. "Wir brauchen diesen kleinen Mittelstand, denn Geschäfte, Imbisse und kleine Supermärkte im Ortskern halten die Nahversorgung aufrecht, sind soziale Treffpunkte und bremsen das Sterben der Innenstädte", sagt García Schmidt. "Dieser Wert ist in Zahlen gar nicht zu erfassen."

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