Süddeutsche Zeitung

Weltwirtschaftsforum in Davos:Über Umwege zur Moral

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Die Mächtigen der Wirtschaftswelt treffen sich in Davos - zu einer Zeit, in der die Gier ins Finanzwesen zurückkehrt, als hätte es die schockierende Krise nie gegeben. Es ist schwer, einen Wertewandel zu schaffen. Doch es gibt eine Lösung.

Andreas Zielcke

Es war eine kurze optimistische Phase, die nach dem Ausbruch der Finanzkrise die politische Phantasie beflügelt hat. Sie ist vorbei. Teilte nicht jedermann noch vor Jahresfrist die Hoffnung, dass der Kollaps des Finanzmarktes weltweit einen moralischen und politischen Ruck auslösen würde? Dass vor allem die Matadoren des Finanzmarkts wieder zur Vernunft kommen und Mitverantwortung für die Welt jenseits ihres eigenen Kontos übernehmen würden? Die Hoffnung trog, die Ernüchterung hat uns wieder.

"Nach einer Schamfrist", so hieß es vor wenigen Tagen in dieser Zeitung, "ist die Gier an Europas größtem Finanzplatz zurück. Mindestens fünf Milliarden Pfund werden die britischen Banken ihren Star-Managern für das abgelaufene Jahr an Prämien zuschanzen." Als hätte es den Schock nie gegeben, als hätte sich die finanzielle Krise nicht in vielen Ländern sogar zur "sozialen Tragödie" (Joseph Stiglitz) ausgewachsen, spielen sie unbekümmert ihr Spiel weiter. Mögen Götter oder andere höhere Gewalten die Sintflut geschickt haben, eine moralische Reinigung hat sie nicht bewirkt.

Doch sich resigniert in Empörung oder im Fatalismus einzurichten, hätte nur den Effekt, den Unverbesserlichen das Feld zu überlassen. Man muss es hier mit dem alltagsnahen Philosophen Georg Simmel halten, der jeden "prinzipiellen Pessimismus" ablehnt, weil es diesem "an Aktivität mangelt - denn alle energische Betätigung ruht auf einer mehr oder weniger "optimistischen Basis".

Was aber könnte einen kraftspendenden Optimismus begründen, nachdem er doch gerade angesichts der Unbelehrbarkeit der Investmentbanker mit guten Gründen verflogen zu sein scheint?

Ganz offensichtlich führt es zu nichts, an die Moral der Akteure zu appellieren. Gegen ihre außerordentlich starken Motive, die sich durchaus nicht in Gier und Egomanie erschöpfen, kommen noch so ergreifende pastorale Mahnungen nicht an. Noch weniger richten sie etwas gegen den Binnendruck im Finanzsystem aus.

Besser indirekt vorgehen

Wie in so vielen anderen Fällen auch, in denen gegen hartnäckige Widerstände kollektive Haltungen verändert werden müssen, sollte deshalb eine Strategie, die auf einen Wertewandel in der Wirtschaft zielt, an deren Eigenlogik ansetzen. Um auf dem Markt eines Tages eine sozialverträglichere Moral zu schaffen, muss man indirekt vorgehen - über den steinigen Umweg der besseren Einsicht in das eigene wirtschaftliche Tun, ja in eigenen wohlverstandenen Egoismus.

Wo also ansetzen? Die meisten Analysen der Krisenursachen konzentrierten sich auf die auffälligsten Mängel des Finanzsystems, auf die fehlende Haftung der Banken über das Eigenkapital hinaus, auf ungenügende Transparenz der Bilanzen und falsche Anreize der Entlohnung. So bedeutsam die Schlüsse aus diesen Fehlern sind, so wenig richten sie das ganze System hinreichend neu aus.

Eine Argumentation, die zu den Wurzeln der Krise und von da zu einer neuen Moral führt, hat bisher George Soros am prägnantesten skizziert. Er steht exemplarisch für die Denkweise eines realistischen "Umweges" zu einer zeitgemäßen Wirtschaftsethik, weil er in seiner Person die harte Version des Spekulanten mit dem Engagement des Stifters und Philanthropen verbindet - und zwar nicht aus purer Generosität, sondern aus systematischen Gründen.

Wenn die Krise eines geleistet hat, dann die Widerlegung der bis dahin herrschenden Arbeitshypothese, der Marktpreis bilde alle für die unternehmerische Entscheidung relevanten Informationen ab. Die Preise der in Wertpapiere umgewandelten Immobilienkredite haben das in ihnen steckende Risiko bekanntlich nicht gespiegelt. Zu Recht rät Soros von der illusionären Unterstellung ab, die Marktteilnehmer seien umfassend informiert oder würden mit den vorhandenen Informationen stets rational umgehen.

Das aber bedeutet, dass der Markt einen Kreislauf zwischen halbwissenden und halbrationalen Marktteilnehmern und ihren Produkten organisiert. Im Zweifel schließt er sich mit seinen eigenen Irrtümern kurz - ohne über verlässliche immanente Korrektur-Instrumente zu verfügen. Daher braucht er eine Supervision von außen. Nicht also, weil er "asozial" funktioniert, sondern weil er noch nicht einmal seiner elementaren Aufgabe gerecht wird, das wirtschaftliche Optimum zu gewährleisten.

Er bedarf einer mitdenkenden Rahmensetzung, das heißt einer verantwortlichen politischen Ökonomie.

Ist aber der Markt stets auch ein Politikum, dann müssen nicht nur Regeln der Sorgfalt, der Haftung und der nachhaltigen Ressourcenverteilung aufgestellt und überwacht werden. Die politische Vernunft muss vielmehr stets entscheiden, für welche Terrains der materiellen Bedürfnisbefriedigung, der Infrastruktur und der sozialen Entwicklung dieser so leistungsfähige wie tendenziell kopflose Markt zum Zuge kommen soll.

Der Staat kommt hier also, das ist die Pointe, nicht ins Spiel, weil es die Bürger so wollen, sondern weil es die Marktwirtschaft wollen muss. Da aber politische Verantwortung für den Markt ihrerseits der Macht und Manipulation von Interessengruppen, Dilettanten und populistischen Stimmungen unterliegt, ist auch der nächste Schluss zwingend: Es bedarf der offenen, sich selbst kontrollierenden Gesellschaft, um den naheliegenden politischen Pathologien vorzubeugen. Bei näherem Hinsehen drängt daher schon die defizitäre Eigenlogik des Marktes auf eine sehr implikationsreiche politische Moral.

Und diese Folgerungen erhalten, soweit es um den Finanzmarkt geht, einen noch dramatischeren Zug. Nicht zufällig führen die Preisbewegungen auf diesem ganz besonderen Markt zu extremeren Höhenflügen und schädlicheren Abstürzen als beim "realen" Gütermarkt. Das hat zum einen natürlich mit der äußerst labilen Funktionsweise der künstlich definierten Derivate zu tun, die so verwegen und instabil aufeinandergetürmt werden wie Kartenhäuser.

Zum anderen gilt bei Wertpapieren im Unterschied zu Teigwaren oder Schrauben das Gleichgewichts-Theorem ohnehin nicht: Die Aktien oder Anleihen einer Firma lassen sich nicht einfach vermehren, wenn die Nachfrage steigt. Schwankungen der Kauflust können darum unversehens in sprunghafte, ja manisch-depressive Preisschübe ausarten. Herdenverhalten ist hier systembedingt. Ausgerechnet diesem Markt aber hatte man die größte Freiheit von Regularien zugestanden. Dabei ist es nicht nur die Kontrolle von vorausdenkender monetärer Vernunft, die er so sehr benötigt - man muss ihm auch die Moral von außen injizieren.

Denn während der normale Gütermarkt sich nicht vollständig vom alltagsmoralischen Kontakt mit der sozialen Umwelt lösen kann, schon weil er hier seine Konsumenten findet, bezieht der Kapitalmarkt seine Stärke aus dem Gegenteil, aus der totalen Unempfindlichkeit gegenüber der sozialen Realität. Ob Immobilienpreise in Kalifornien steigen oder in den Keller stürzen (mit entsprechenden sozialen Folgen), spielt keinerlei Rolle, solange man sich auf der richtigen Seite der derivativen Wette befindet.

Doch die Summe der Wetten wirkt auf die Immobilienpreise und damit auf die soziale Lage zurück. Würde man dem Finanzmarkt Einsicht in diese Rückkopplung und damit sozialen Realismus beibringen, wäre dies weit mehr, als nur das Gewissen der Trader und Broker zu aktivieren: Es wäre eine Revolution dieses Marktes. Schließlich müsste er seine Anlagestrategien, Transaktionen, Portfolios und Finanzmathematik völlig neu, nämlich sozialsensibel ausrichten. Eine solche politische Ökonomie des Finanzmarkts hat bisher noch niemand ausgearbeitet oder auch nur ausgemalt.

Eine Sozialisierung des Marktes wagen

Trotzdem muss sie das Ziel sein. Das gebieten die immensen Schädigungspotentiale dieses Marktes für die Weltwirtschaft, aber auch seine Selbstzerstörungskräfte. Seine soziale Indifferenz verschafft ihm seine größte Stärke und seine größte Fehleranfälligkeit zugleich.

Die politische Ökonomie hat ihre eigene Geschichte. Seit dem 19. Jahrhundert war sie in bürgerlichen Staaten desto stärker diskreditiert, je radikaler sie von Kommunisten vereinnahmt wurde - gipfelnd in der Sozialisierung des Eigentums. Im Westen kam sie erst mit der jüngsten Krise wieder auf, allerdings als negative Version: als politisch gewollte Sozialisierung der durch die Krise ausgelösten Verluste.

Die nächste Stufe müsste die Moral der politischen Ökonomie ins Positive wenden - und eine Sozialisierung des Sinns des Marktes wagen.

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Quelle:
SZ vom 26.01.2011
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