Süddeutsche Zeitung

Weltwirtschaft:Was den deutschen Wohlstand wirklich bedroht

Lesezeit: 3 min

Während alle auf Griechenland starren, flaut der Boom in den Schwellenländern ab.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Die Europäer starren darauf, was aus Griechenland wird. Setzt die Regierung die Reformen wirklich um? Oder geht das Drama weiter? Wie immer, wenn der Blick eng wird, entgeht einem anderes. In diesem Fall: andere Gefahren, die das Wohlergehen der Europäer mindestens so beeinflussen wie das Schicksal Griechenlands. Diese Woche wurde bekannt, dass die Arbeitslosigkeit in den Schwellenländern erstmals seit sechs Jahren nicht mehr sinkt, sondern steigt. Auch wenn die Arbeitslosenraten noch vergleichsweise niedrig ausfallen, ist der Trend bedenklich, dass in diesen Ländern immer mehr (oftmals auch junge) Menschen keine Stelle mehr haben.

Die Jobverluste sind das neueste Anzeichen für einen Entwicklung, die die Europäer bisher kaum wahrnehmen. Ihre politische Energie konzentriert sich auf Griechenland, während sich auf den anderen Kontinenten eine epochale Wende abzeichnet: Der zwanzigjährige Boom von Schwellenländern wie China und Indien bis nach Südamerika flaut ab. Nachdem diese Staaten zunächst gut aus der Finanzkrise gekommen waren, wird nun ein Bruch sichtbar: In den vergangenen beiden Jahren wuchsen ihre Volkswirtschaften nur etwa halb so stark wie vor der Krise.

Der Daueraufschwung in den Ländern war ein Garant für deutsche Jobs

Wie sehr dieser Schwächeanfall den Westen bedroht, zeigen zwei Zahlen: Die Schwellenländer, lange Anhängsel der Industriestaaten, machen heute fast 60 Prozent der Weltwirtschaft aus. Die deutschen Exporte in diese Regionen nahmen von 2000 bis 2010 jedes Jahr um zehn Prozent zu. Der Daueraufschwung in den Schwellenländern war ein Garant für deutsche Jobs, Firmengewinne und Steuereinnahmen. Das alles steht nun auf dem Spiel. Damit die Abschwächung nicht zum Drama für die Weltwirtschaft wird, bedarf es politischer Reformen. Und zwar sowohl in den Schwellenländern als auch im exportabhängigen Westen.

Westliche Beobachter wiegten sich lange in Sicherheit, weil sie die Flaute mit Sonderfaktoren erklärten: Mit den Sanktionen gegen Russland etwa oder weniger Nachfrage kriselnder Europäer nach "Made in China". Da schwang die Hoffnung mit, diese Sonderfaktoren könnten sich bald in Luft auflösen - und durch Positives aus anderen Schwellenstaaten ausgeglichen werden. Nun ist schmerzhaft zu spüren, dass die Dynamik überall nachlässt: In Lateinamerika wie in Asien, im Nahen Osten wie in Afrika. Selbst die wirtschaftliche Erholung in den USA und Europa scheint den Ländern nicht zu helfen. Dafür zeichnen sich düstere Wolken am Horizont ab: Sobald die amerikanische Notenbank ihre Zinsen wirklich erhöht, dürften einige der inzwischen hoch verschuldeten Firmen und Regierungen der Schwellenländer unter Druck geraten.

Die Probleme der einstigen Dauergewinner sind also nicht kurzfristig, und sie verschwinden kaum von selbst. Wer die Gründe für die Flaute analysiert, stellt aber fest: Die betroffenen Länder können in den meisten Fällen etwas dagegen tun.

Der neue Weg zu mehr Wachstum: neue Reformen

Es trifft Brasilien und Russland, wenn die Rohstoffnotierungen kollabieren, nachdem sie sich in den Nullerjahren verdoppelt hatten. Aber der Preisverfall legt eben schonungslos offen, was diese Länder im Boom versäumten - und was sie nachholen müssten: Sie müssen ihre Wirtschaft diversifizieren und weniger abhängig von Rohstoffen werden. Brasilien vernachlässigte Straßen, Schulen und andere Infrastruktur. Und Russland schreckte mit Willkür und Aggression nicht nur die Nachbarländer, sondern auch Investoren.

Solche Lehren sind auch anderswo zu finden. Es liegt auf der Hand, dass Chinas Ökonomie nicht mehr so stark wachsen kann, wenn sie den technologischen Abstand zum Westen größtenteils aufgeholt hat und die Zahl derjenigen, die vom Land in die Stadt ziehen, tendenziell abnimmt. Aber die aktuelle Schwäche legt auch offen, dass der Öffnung des Landes durch den Beitritt zur Welthandelsorganisation und der Schrumpfung der Staatsbetriebe wenig Veränderungen nachfolgten.

Insgesamt zeigt sich: Der Aufstieg der Schwellenländer seit den Neunzigerjahren ist stark durch marktwirtschaftliche Reformen zu erklären. Und deshalb, das ist die gute Nachricht, gibt es einen Weg zurück zu mehr Wachstum: neue Reformen.

Veränderungen sind auch von Exportstaaten wie Deutschland gefordert, dessen erstaunliche Stärke teils wie geliehen wirkt - geliehen vom verblassenden Boom der Schwellenländer, vom niedrigen Euro, vom billigen Öl. Was leistet die deutsche Politik, um den Aufschwung zu sichern? Diese Frage bekommt angesichts der Probleme in den Schwellenländern einen bedrohlichen Ton. Die großen wirtschaftspolitischen Reformen wie die Agenda 2010, von denen das Land zehrt, liegen schon zehn Jahre zurück.

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SZ vom 23.07.2015
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