Süddeutsche Zeitung

Italien:Unversöhnliche Fronten im Südtiroler Apfelstreit

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Wie viel Chemie wird in den Obstplantagen Südtirols eingesetzt? Jetzt stellen Umweltschützer den Apfelbauern ein Ultimatum: Entweder wird das Verfahren gestoppt oder sie wollen hochbrisante Daten über mutmaßlich massenhaften Einsatz von Pestiziden im Alleingang veröffentlichen.

Von Uwe Ritzer, Bozen/München

Der Brief ist höflich formuliert, in der Sache aber enthält er ein Ultimatum. "Bei uns ist nach fast einem Jahr Verschiebungen und Unklarheiten das Bedürfnis groß, voranzukommen", schreibt Karl Bär. Der Agrarreferent des Münchner Umweltinstituts und andere Öko-Aktivisten haben 2017 bei einer Plakataktion und im Internet den mutmaßlich massenhaften Einsatz von Pestiziden beim Apfelanbau in Südtirol angeprangert, woher jeder zehnte in Deutschland und Europa verkaufte Apfel kommt. Deswegen zerrten sie der in der Südtiroler Provinzregierung für Landwirtschaft zuständige Landesrat Arnold Schuler und 1371 Obstbauern vor Gericht. Verliert Bär seinen Prozess, droht ihm eine Freiheitsstrafe und hoher Schadenersatz. Umgekehrt allerdings könnte das Verfahren für die Südtiroler Obstwirtschaft zum Rohrkrepierer werden. Dann nämlich, wenn Bär und seine Leute das brisante Material veröffentlichen, das sie in Händen halten.

Um dieses Material geht es in dem Brief, in dem Bär Landesrat Schuler und den Obleuten der Südtiroler Erzeugerverbände VOG und VIP eine letzte Frist für eine gütliche Einigung setzt. Bis kommenden Freitag sollen sie ihre Strafanzeigen zurückziehen, auf deren Grundlage die Staatsanwaltschaft in Bozen Anklage gegen Bär vor allem wegen schwerer übler Nachrede erhoben hat. Lassen Schuler und die Verbände die Frist verstreichen, wollen die Umweltschützer geheime Daten über den Chemieeinsatz in Südtiroler Apfelplantagen veröffentlichen, die ihnen im Zuge des Prozesses in die Hände gefallen sind. Es handelt sich um Rechnungen und Berichtshefte, die exakt dokumentieren, wie viel Chemie jeder Obstbauer einkauft und versprüht hat. Nie zuvor verfügten Öko-Aktivisten über solch eine Datenmenge aus erster Hand zum Thema Pestizideinsatz. Die Bozener Staatsanwaltschaft hatte das Material im Zuge ihrer Ermittlungen bei den Bauern beschlagnahmt. So gelangte es in die Gerichtsakten - und damit in die Hände von Karl Bär und dem Umweltinstitut.

Das ist brisant für die Südtiroler Beteiligten, nicht nur, weil kein Landwirt möchte, dass solche Betriebsgeheimnisse in die Hände seiner Kritiker geraten. Südtirol ist das größte zusammenhängende Apfelanbaugebiet Europas. Es steht also ein riesiges Geschäft auf dem Spiel. Schließlich verkaufen die Südtiroler nicht nur Äpfel in ganz Europa, sondern auch andere Obstsorten und Wein. Eine Chemiedebatte könnte der Südtiroler Landwirtschaft bei den Verbrauchern schwer schaden. Obendrein geht es um den Ruf des vor allem bei Deutschen beliebten Urlaubsgebiets. Entsprechend groß ist die internationale Aufmerksamkeit. Mehr als 100 Organisationen aus Europa erklärten sich mit Bär und Co. solidarisch, 250 000 Menschen fordern in einer Petition die Einstellung des Prozesses. Die Menschrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, stuft das Verfahren als Einschüchterungsversuch ein, um unliebsame öffentliche Kritik zu unterdrücken.

Auch Karl Bär sagt, das Vorgehen der Südtiroler Obstwirtschaft und der Landesregierung habe Methode. "Sie haben immer wieder versucht, die Diskussion um den Pestizideinsatz mit Gerichtsverfahren zu beenden. Der Freispruch für Alexander Schiebel zeigt aber, dass das nicht mehr funktioniert." Der ebenfalls von Schuler und den 1371 Apfelbauern angezettelte Prozess gegen den österreichischen Pestizidkritiker, Filmemacher und Buchautor Schiebel ("Das Wunder von Mals") endete vor wenigen Wochen mit einem glatten Freispruch. Weitere Verfahren gegen seinen Münchner Verleger Jacob Radloff (Oekom-Verlag) und Kollegen von Karl Bär aus dem Umweltinstitut hatte das Landgericht Bozen bereits im Oktober 2020 eingestellt. Nur Bär sitzt noch auf der Anklagebank. Dabei hatte Arnold Schuler, Politiker der konservativen SVP, vor Kurzem erklärt, nach monatelangen Vergleichsverhandlungen hätten die Anwälte beider Seiten vereinbart, "dass man vom Gerichtssaal an einen Tisch des konstruktiven Dialogs wechseln will".

Für viele Südtiroler ist die Kritik am Pestizideinsatz ein Generalangriff auf die Region

Tatsächlich einigten sich beide Seiten, dass Bär und Co. die Daten aus den Berichtsheften nicht im Alleingang veröffentlichen, sondern gemeinsam mit der Landesregierung und den Obstanbauverbänden Südtirols. Und zwar vor Ort und auf einem Fachsymposium, für das sogar schon ein Moderator ausgesucht wurde, der österreichische Nachhaltigkeitsexperte Alfred Strigl. "Damit sind allerdings keine inhaltlichen Zugeständnisse unsererseits verbunden", sagt Karl Bär. "Aber wir wollen der anderen Seite eine faire Gelegenheit geben, ihre Positionen darzustellen und mit uns zu diskutieren." Sowohl Landesrat Schuler als auch die beiden großen Erzeugerverbände haben bislang nur auf ihre Rollen als Nebenkläger vor Gericht verzichtet, nicht aber ihre Anzeigen zurückgezogen. Solange sie das nicht tun, läuft der Prozess weiter. Erschwerend kommt hinzu, dass zwei der 1371 Apfelbauern sich ohnehin kategorisch weigern, ihre Strafanzeigen zurückzuziehen.

Nicht wenige in Südtirol, darunter auch lokale Medien, empfinden allein die Kritik am Pestizideinsatz und die Berichterstattung über den Fall in Deutschland als Generalangriff. Es gibt aber auch Stimmen von Umwelt- und Verbraucherschützern, die etwa ein neues Strategiepapier von Landesrat Schuler für die Südtiroler Landwirtschaft kritisieren, in dem dieser die Forcierung der Gentechnik verlangt. "Bei der grünen Gentechnik handelt es sich um eine enorme Chance, die wir nutzen müssen", sagte der SVP-Politiker. Das käme einem fatalen Paradigmenwechsel gleich, sagen seine Kritiker.

Was den Chemieeinsatz in der Landwirtschaft angeht, scheint das Problembewusstsein in Südtirol überschaubar, wie ein Vorgang von März 2021 zeigt. Da empfahl der regionale Beratungsring für Obst- und Weinbau seinen Mitgliedern in einem Rundschreiben, etwaige Restbestände von Mancozeb schnell noch zu versprühen, bevor die EU dem Stoff die Zulassung entzieht. EU-Experten stufen Mancozeb als schädlich für Mensch und andere Organismen ein.

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