Süddeutsche Zeitung

Digital in Südkorea:Wo das Internet in die Welt schwappt

Lesezeit: 4 Min.

Von Dirk von Gehlen, Seoul

Wer das Internet sehen und womöglich sogar mal anfassen will, muss in Seoul nur auf die Straße gehen. Südkorea belegt nicht nur seit Jahren einen vorderen Platz im ICT genannten Digitalierungs-Index der Vereinten Nationen, laut "State of the Internet"-Report surfen die Menschen auch nirgendwo auf der Welt so schnell im Internet wie hier: Durchschnittlich 28,6 Megabit in der Sekunde hat der Dienstleister Akamei in seinem jährlichen Report ermittelt.

Zum Vergleich: In Deutschland - auf Platz 25 in der Auswertung - kommt man gerade mal auf die Hälfte. Wer also wissen will, wie es irgendwann in naher oder ferner Zukunft mal sein könnte, wenn das Internet allgegenwärtig ist, der muss nur nach Südkorea reisen. Am besten gleich nach Seoul. Das liegt an der sehr hochwertigen Infrastruktur, die Südkorea seit den 1990er Jahren aufgebaut hat. Und diese kann man in der Hauptstadt tatsächlich sehen: Sie hängt schlicht über der Straße. Die Glasfaserkabel, die das schnelle Internet ermöglichen, sind in Seoul häufig nicht unter dem Bürgersteig verlegt, sondern wie Stromkabel über die Straße gespannt.

Dass man das Internet in diesen Straßen sehen kann, hat aber noch mindestens zwei weitere Gründe: Einerseits dauert es sehr lange, bis man in der Stadt jemanden sieht, der kein mobiles Endgerät bei sich trägt. Auf 100 Einwohner kommen in Südkorea durchschnittlich 120 Mobilfunk-Verträge, das bemerkt man im Straßenbild durchaus. Und schließlich erkennt man das Internet in Südkorea an seinen kindlich großen Augen, den niedlichen Hasenohren und seinem alles in allem tapsigen Auftreten. Denn das Internet in Südkorea ist auch in Form von unübersehbaren Figuren im Straßenbild präsent, die dem äußerst bekannten Messenger Kakao Talk entstiegen sind.

Ryan der Löwe lädt zum Kaffeekränzchen

Kakao ist die koreanische Variante von WhatsApp, und die so genannten "Kakao-Friends" sind Sticker, die man in dem Messenger auf dem Smartphone nutzen kann, um Botschaften emotional zu unterstreichen. Sie sind vergleichbar mit den Emojis, die viele Menschen hierzulande in Programmen wie WhatsApp oder Threema nutzen. Doch die "Kakao-Friends" haben für ihre Macher einen Vorteil gegenüber den Emojis: Sie gehören der Firma, sie kann mit ihnen Geschäfte machen. Und das ist in dem Fall wörtlich gemeint. Denn die Figuren haben tatsächlich über mehrere Etagen angelegte Ladengeschäfte.

Im Stadtteil Gangnam, der durch den Song des Sängers PSY selber große Internet-Berühmtheit erlangte, gibt es beispielsweise einen "Kakao Friends"-Laden, in dessen dritter Etage ein Ryan-Café zum Verweilen einlädt. Ryan ist ein Löwe, der wegen fehlender Mähne ein wenig aussieht wie ein Bär. Der Stofftier gewordene Messenger-Sticker, der hier als mannshohe Figur auf einem der Sofas in dem Cafe hockt, ist einer der Garanten für den Erfolg. Er wurde 2016 auf den Markt gebracht. 2017 wählten 2,2 Millionen Koreaner die Löwenfigur als Symbol auf ihrer Kreditkarte bei der mit Kakao kooperierenden Online-Bank. Außerdem strahlt Ryan die Besucher des Flagship-Stores von Bechern, Taschen, Mousepads und unzähligen weiteren Gebrauchsgegenständen an. Der "Kakao-Friends"-Laden hat einen Teil des Internets von den Endgeräten emanzipiert und dem Anbieter Kakao, der 2014 mit der zweitgrößten südkoreanischen Netzanbieter Daum fusionierte, eine völlig neue Form des Online-Geschäfts erschlossen: die Offline-Welt.

Es gibt diese Flagship-Stores nämlich nicht nur vom Anbieter Kakao, auch der Konkurrent Line, der zum größten südkoreanischen Netzbetrieber Naver gehört, bietet seine Messenger-Sticker als Figuren zum Kauf in großen Läden an. Und das nicht nur in Seoul, sondern auch in Tokio, Shanghai und New York. Es gibt keine offiziellen Zahlen, aber die staatliche "Korea Creative Content Agency" schätzte den Markt für solche Figuren und deren Folgeprodukte auf umgerechnet mehrere hundert Millionen Euro. Dazu muss man wissen, dass die Friends nicht nur in ihren eigenen Geschäften verkauft werden, sie geben ihre Gesichter im Lizenzgeschäft auch her, um Toilettenpapier, Lebensmittel oder Bankkarten zu vermarkten.

Die nächste Stufe des Internets

Der besondere Erfolg der Friends-Figuren hängt dabei mit einer Eigenheit der südkoreanischen Internetkultur zusammen. Sogenannte Webtoons sind hier seit Jahren so beliebt, dass sie mittlerweile den japanischen Mangas Konkurrenz machen. Es handelt sich dabei um Cartoons, die übers Web verbreitet werden. Die großen Anbieter Naver und Daum, die auch hinter den Messenger-Diensten stehen, vertreiben die Webtoons schon seit Anfang des Jahrhunderts mit sehr großem Erfolg. Experten sehen in ihnen eine Art Vorläufer der Friends-Figuren. Auf jeden Fall hat ihre Bekanntheit den Aufstieg der Friends begünstigt.

Wenn im Silicon Valley davon gesprochen wird, dass die nächste Stufe des Internets sich vom Bildschirm emanzipieren wird, dann geht es meist um intelligente Sprachanwendungen wie Siri, Alexa oder Cortana, die antworten, wenn man mit dem Computer spricht.

Ein paar Straßen vom Kakao-Laden in Gangnam entfernt, arbeitet die große koreanische Technikfirma Samsung gerade daran, ihre Sprachanwendung Bixby demnächst auch auf deutsch anzubieten. Auch Bixby wird dazu beitragen, dass die eigene Stimme zum Eingabeinstrument für digitale Geräte wird. "Voice" (englisch für Stimme) ist deshalb das große Schlagwort, wenn es um die Zukunft im Internet geht.

Dabei bestätigt auch die Gegenwart im südkoreanischen Internet: Es gibt bereits jetzt eine Form der Emanzipation vom Bildschirm, die ebenso wichtig ist. Die Kombination von digitalen und analogen Anwendungen, für welche die Kakao- und Line-Friends sicher das niedlichste Beispiel sind, ist hier eine äußerst lukrative nächste Stufe des Digitalen. Wenn das Internet so selbstverständlich in den Alltag integriert ist wie in Südkorea, ergeben sich weitere Kombinationen fast automatisch, weil vielen gar nicht mehr auffällt, dass sie gerade das Internet nutzen.

Vielleicht ist das neben Geschwindigkeit und Verbreitung der dritte wichtige Unterschied zum Internet in Deutschland: In Südkorea diskutiert kaum jemand darüber, ob man es benutzen soll. Es ist einfach da und verbindet sich ganz selbstverständlich mit der Offline-Welt.

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Quelle:
SZ vom 18.05.2019
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