Süddeutsche Zeitung

Einkommen:Geschätzt vier Millionen Deutsche zahlen Spitzensteuersatz

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Bei vielen reicht bereits ein Bruttoeinkommen zwischen 5000 und 7000 Euro für den Steuersatz von 42 Prozent. Nun fordert ein ungewöhnliches Bündnis, die Mitte zu entlasten - was die Regierung ablehnt.

Von Alexander Hagelüken, München

Das Wort Spitze suggeriert, einer sei ganz oben. Auf dem Gipfel des Berges, der Spitze eben. Was den Gipfel der Einkommensteuer angeht, stimmte das lange. Noch 1965 musste einer den 15-fachen Durchschnittslohn verdienen, um den Spitzensatz zu zahlen. Inzwischen greift der Fiskus bei Millionen in der Mitte zu. Nach Daten, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen, trifft der Spitzensatz 3,5 Millionen Deutsche. Es reicht schon, den 1,5-fachen Durchschnitt zu verdienen. Angesichts voller Kassen fordern jetzt sehr gegensätzliche politische Lager, der Mittelschicht zu helfen.

Die Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zeigt: Den Spitzensatz von 42 Prozent zahlen 1,7 Millionen Arbeitnehmer, die nicht mehr als 5000 bis 7000 Euro brutto monatlich verdienen. Kaum ein Topgehalt, klagt ein Politiker: "Es ist ungerecht, dass viele Arbeitnehmer schon mit mittlerem Gehalt zu Spitzenverdienern erklärt werden. Dass 1,7 Millionen Menschen den Spitzensatz zahlen, ohne Spitzeneinkommen zu haben, ist unfair und schadet dem Ansehen des Steuersystems." Das sagt nicht der FDP-Parteichef, sondern Dietmar Bartsch, der Fraktionschef der Linken im Bundestag.

FDP-Parteichef Christian Lindner hört sich so an: "Es ist eine Schande, dass sich der Spitzensteuersatz bis tief in die arbeitende Mitte der Gesellschaft vorgefressen hat. Hier reden wir nicht über Manager und Profifußballer, sondern den Facharbeiter in der Autoindustrie oder die Personalreferentin in einem mittelständischen Betrieb."

Linke und FDP - was für eine Allianz. Die seltene Ehe gewinnt dadurch Brisanz, dass der Staat in Geld schwimmt, mit dem sich Steuersenkungen finanzieren ließen. Bund, Länder und Co. melden für 2019 erneut einen Riesenüberschuss, diesmal 50 Milliarden Euro. Doch die Regierung will von einer großen Steuerreform für die Mitte nichts wissen. Die große Koalition kippt bald den Soli für die meisten Bürger, das soll's im Wesentlichen gewesen sein. Die SPD präferiert Investitionen und verweist auf Dinge wie höheres Kindergeld, wovon auch die Mitte profitiert. Die Union fokussiert sich auf Steuersenkungen für Firmen und den Soli-Wegfall für Topverdiener.

OECD kritisiert Deutschland

Dietmar Bartsch von den Linken dagegen beharrt auf Steuersenkungen für die Mitte: "Wir sollten Facharbeiter und Menschen mit mittleren Einkommen aus der Spitzenbesteuerung rausholen. Ein gerechtes Steuersystem muss diese Leistungsträger des Landes, die die höchste Steuern- und Abgabenlast haben, entlasten. Wir brauchen eine große Steuerreform, die kleine und mittlere Einkommen besserstellt. Wer weniger als 7100 Euro brutto im Monat hat, sollte weniger zahlen."

Und FDP-Lindner? "Das Geld, das der Staat kassiert, fehlt zum Beispiel zum Kauf einer eigenen Wohnung. Wir brauchen dringend eine Steuerreform, die der arbeitenden Mitte Luft zum Atmen verschafft und deutlich macht, dass sich zusätzliche Anstrengung lohnt."

Nun zahlen die erwähnten Mittelschichtler nur auf einen kleineren Teil ihrer 5000 bis 7000 Euro monatlich den Spitzensatz. Doch auch die durchschnittliche Steuerbelastung etwa der Singles in dieser Gruppe fällt mit 27 Prozent recht hoch aus, dazu kommen Sozialabgaben. Harte Zahlen zum Spitzensatz gibt es nur von 2015, weil Bürger ihre Erklärungen spät abgeben können. Das Problem vergrößert sich aber. 2018, schätzt die Regierung selbst, zahlten vier Millionen Bürger den Spitzensatz.

Organisationen wie die OECD kritisieren, dass Arbeitnehmer in Deutschland vielfach mehr an den Staat abgeben müssen als in anderen Industriestaaten. Reformen kamen zuletzt überwiegend einer Minderheit zugute. "Reiche wurden massiv besser gestellt", analysiert Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Die weniger verdienenden 70 Prozent der Gesellschaft würden insgesamt stärker mit Steuern und Abgaben belastet als vor 20 Jahren.

"Während die Reichen entlastet wurden, zahlt die Mittelschicht mit 3000 bis 8000 Euro Verdienst mehr Steuern als früher", sagt Martin Beznoska vom Institut der deutschen Wirtschaft. "Eigentlich müsste man die Steuersätze reduzieren." Beznoska rechnete 2017 mit Clemens Fuest vom Ifo-Institut in einer Studie vor, wie das gehen könnte. Die Steuer steigt derzeit mit höherem Einkommen nicht in einer durchgezogenen Linie an, sondern wölbt sich nach oben - der sogenannte Mittelstandsbauch. Den Steuersatz vor allem für niedrigere Einkommen langsamer steigen zu lassen, würde einer dreiköpfigen Familie mit 3500 Euro Monatsbrutto 550 Steuern im Jahr ersparen. Verdient eine Familie 6500 Euro, sind es 850 Euro. Entlastet man auch diese mehr verdienende Familie stärker, spart sie doppelt so viel.

Die erste Variante kostet gut zehn Milliarden Euro, die zweite doppelt so viel. Das gibt einen Eindruck davon, wie teuer eine Steuerreform für die Mitte kommt. Hier schälen sich dann die erwarteten Unterschiede zwischen Linken und FDP heraus. Linken-Fraktionschef Bartsch will höhere Einkommen stärker heranziehen. Wer mehr als 7000 Euro im Monat verdient, soll einen höheren Steuersatz zahlen - der zum Beispiel bei 20 000 Euro Monatsgehalt 60 Prozent erreicht.

Solche Mehrbelastungen sieht FDP-Chef Lindner als Teufelszeug. Er will anders als die Linken Topverdienern den Soli ersparen. Eine Koalition wird daraus kaum. Als Lindner und Bartsch 2019 bei einer Buchvorstellung bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung gemeinsam auf dem Podium saßen, schlug der FDP-Chef dem Linken im Scherz vor, künftig öfter gemeinsam aufzutreten: "Alle, die mit mir sympathisieren, lehnen dich ab und umgekehrt. So haben wir immer doppelt so viel Publikum wie andere."

Dennoch bleibt es bemerkenswert, wie Liberale und Linke plötzlich Übereinstimmungen zeigen, was die Mittelschicht angeht. Wie die Parteien außen im Spektrum eine Steuerentlastung fordern, die die Regierung verweigert.

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SZ vom 20.01.2020
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