Süddeutsche Zeitung

Silicon Beach:An Rosen riechen

Lesezeit: 3 min

Die Flut an Informationen ist während der Coronavirus-Pandemie nicht geringer geworden. Höchste Zeit gegenzusteuern.

Von Jürgen Schmieder

Vor Beginn der Corona-Pandemie, es ist also schon eine Weile her, gab es einen witzigen Eintrag bei Twitter. Ein Nutzer verglich darin die sozialen Netzwerke mit den US-Bundesstaaten: Facebook ist demnach Florida (vorwiegend alte Leute), Instagram ist Kalifornien (alles ist oberflächlich hübsch, dient aber stets kapitalistischen Zielen), Snapchat ist Louisiana (eine Party, die keiner kapiert, der nicht selbst dabei ist) - und Twitter ist natürlich New York: Die Einwohner motzen einander an, sind dabei aber derart unterhaltsam, dass man unbedingt dabei sein oder wenigstens zuschauen will.

Nun böte die Pandemie durchaus Gelegenheit zur digitalen Entgiftung: Sukkulenten pflanzen, ein Vier-Gänge-Menü zaubern, endlich diesen Roman lesen oder gar schreiben. Allerdings liegt das Mobiltelefon, der Mephistopheles dieses Jahrhunderts, stets griffbereit, es verführt und treibt einen dann in den Wahnsinn: Die Freundin präsentiert auf Instagram ein Sieben-Gänge-Menü oder einen schöneren Sukkulenten-Garten. Selbst die Mutter hat den Roman (das zeigt sie auf Facebook) längst gelesen und der Erzfeind einen geschrieben. Und gegen wen oder was keift eigentlich Donald Trump schon wieder bei Twitter? Dazu Nachrichten, Kommentare, Einladungen zu Zoom-Treffen und Houseparty-Spielen, am Ende der Woche folgt die Analyse, dass man knapp acht Stunden am Tag vor dem Handy-Bildschirm verbracht hat.

Es ist also höchste Zeit für ein paar digitale Gegenmaßnahmen, und es scheint tatsächlich, als wäre zum Beispiel das Videospiel "Before I Forget" genau dafür entwickelt worden: Der Spieler schlüpft in die Rolle von Sunita, die an Demenz leidet und sich sogar in ihrem eigenen Haus verirrt. Die Geschichte ist auf den ersten Blickt todtraurig und bisweilen furchterregend, letztlich jedoch eine Hommage ans Leben und jene Momente, die wir, obwohl sie uns tief geprägt haben, von einer Welle neuer Informationen fortspülen lassen. Es ist die Aufforderung, ab und zu innezuhalten und in aller Ruhe die Sukkulenten am Balkon zu genießen, anstatt nur schnell ein Foto für den Instagram-Account zu machen.

Der Spieler entdeckt, was für ein tolles Leben Sunita hatte: ihre Karriere als Wissenschaftlerin; der wunderbare Song, den ihr Lebenspartner, der Musiker Dylan, auf dem Klavier für sie spielt; dieser Moment im Park, als es regnete und ihr Dylan einen Schirm anbot. Man spielt, man fühlt, man weint, und dann verspürt man diesen Drang, sich selbst ein wenig zu erinnern: an diese verrückte Party am See in der elften Klasse - könnte man nicht der Freundin von damals einen Gruß auf Facebook schicken? An die eigene Hochzeit - wie gut, dass man nicht das Fotoalbum suchen muss, die Bilder liegen ja in der Cloud. Oder dieser Song beim Abschlussball - den man nun sofort bei Spotify findet. Technik hilft beim Erinnern.

Vielleicht setzt man sich auch einfach nur auf eine Wiese und guckt Sterne, man lässt sich von einer App wie Sky Map oder Star Walk 2 auf der Suche nach Kassiopeia (rechts von Perseus) helfen, weil man dieses Sternbild mit der heutigen Ehefrau vor mehr als 20 Jahren bewundert hat. Vielleicht, das ist die wahre Botschaft dieses Spiels, die gerade jetzt an Bedeutung gewinnt: Diese Wochen in der eigenen Wohnung sind keine verlorenen, solange man Momente kreiert, an die man sich später gerne erinnert.

Warum gibt es eigentlich keine Plattform, die wie Hawaii ist?

Es passt also, dass Snapchat in der vergangenen Woche vier sogenannte Mini-Apps veröffentlicht hat, Kooperationen mit Partnern, deren Produkte auf der Snap-Plattform laufen, und dass die erste Mini-App Headspace heißt: Die Nutzer können aus einer von sechs Meditation-Sessions wählen und sie gemeinsam mit Freunden absolvieren. Weg von der Party in Louisiana, quasi rüber an den Strand von Hawaii. Headspace funktioniert freilich auch außerhalb der Snapchat-App, wie die Konkurrenten Calm oder Ten Percent Happier.

Interne Studien hätten ergeben, heißt es bei Snap, dass viele der Nutzer unter Stress, Angstzuständen und Depressionen leiden und dass sie sich damit an (digitale) Freunde wenden würden. "Wir wollen einen sicheren Ort schaffen, an dem Freunde aufeinander achtgeben und sich gegenseitig ermuntern können", heißt es in der Ankündigung. Bereits zu Beginn der Pandemie hatte das Unternehmen "Here for You" veröffentlicht, eine Art Suchmaschine, die den Nutzern Hilfe bietet, wenn sie Begriffe wie Panik oder noch Schlimmeres eingeben.

Die anderen Mini-Apps von Snapchat sind Hilfen für gemeinsame Entscheidungsfindung, die Studierhilfe Flashcards und Prediction Master, bei der die Leute popkulturelle Prognosen abgeben sollen, etwa ob Meghan Markle bald die Hauptrolle in einer Hollywood-Produktion übernehmen wird. All das wirkt, als ob man es auch beim gemeinsamen Urlaub mit Freunden am Lagerfeuer tun könnte. Es sind Momente, die man verdrängt, einen aber entscheidend geprägt haben. Ist es nicht schön, wenn einen Facebook eine Erinnerung schickt, weil etwas vor genau sieben Jahren passiert ist?

Technik muss das Leben nicht unbedingt beschleunigen, das Mobiltelefon ist nicht unbedingt ein Hilfsmittel des Teufels. Es gibt auch in der digitalen Welt ein paar Orte, die an Hawaii erinnern - was freilich zur Frage führt, welcher Bundesstaat eigentlich Tiktok wäre. Glaubt man den Aussagen von US-Verteidigungsminister Mike Pompeo und denen der Cyber-Experten von ProtonMail, dann ist es eine Provinz in China, in der ein gigantisches Teleskop aufgestellt ist. Das blickt aber in Richtung Kassiopeia, sondern in die Wohnzimmer der Nutzer. Ziemlich genau das Gegenteil von Hawaii.

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SZ vom 29.07.2020
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