Süddeutsche Zeitung

Sachsen vor der Wahl :Sächsische Klimakrise

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Kurz vor der Landtagswahl, bei der die AfD stärkste Kraft werden will, ist die Stimmung aufgeheizt. In Unternehmen und Politik wächst die Sorge um Image und wirtschaftliche Zukunft des Freistaates.

Von Ulrike Nimz

Der Festsaal in der Dresdner Dreikönigskirche ist ein besonderer Ort. Von 1990 bis 1993 kamen hier die Mitglieder des ersten Sächsischen Landtages zu ihren Sitzungen zusammen. Der Blick der Abgeordneten fiel schon damals auf ein Wandgemälde des Künstlers Werner Juza, sieben Meter hoch, 18 Meter breit. Es heißt "Versöhnung".

Drei Wochen vor der Landtagswahl saßen die Spitzenkandidaten der Parteien wieder in dieser historischen Kulisse. Es war die erste von einigen Elefantenrunden, eingeladen hatten die Initiative Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen und der Hightech-Branchenverband Silicon Saxony. Um die künftige Wirtschaftspolitik sollte es gehen, um den Strukturwandel in der Lausitz, die Russland-Sanktionen, Breitbandausbau, Bürokratieabbau. Und um Sachsens ganz eigene Klimakrise: Die Stimmung im Land ist aufgeheizt, die AfD will am 1. September stärkste Kraft werden. Spätestens seit den Ausschreitungen in Chemnitz vor einem Jahr sorgen sich namhafte Unternehmer daher um Image und ökonomische Potenziale des Freistaates. Mehrere Firmen, jüngst Globalfoundries, haben Wahlaufrufe gestartet, in denen sie zumindest implizit davor warnen, den Populisten eine Stimme zu geben.

In der Dreikönigskirche schilderte Andreas von Bismarck, Chef des Chemnitzer Strickmaschinenherstellers Terrot und Sprecher von Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen, die Lage so: Eine Reihe der etwa 70 Mitgliedsfirmen hätten schon Absagen erhalten, weil Bewerber befürchteten, sich in Sachsen nicht wohlzufühlen. "Wir reden hier nicht über ein bisschen Wachstumsverlust. Wir reden darüber, dass wir die Wirtschaftskraft, die wir in den vergangenen Jahren aufgebaut haben, wieder einbüßen." Um ein solches Szenario abzuwenden, sei Willkommenskultur das A und O. Sachsens Wirtschaftsminister und SPD-Chef Martin Dulig wurde noch deutlicher: In diesem Wahlkampf gehe es um die Frage, wie man künftig zusammenleben wolle - "in Angst oder Zuversicht".

Lange war Sachsen Garant für Letzteres. Keines der ostdeutschen Bundesländer hat sich seit der Wende wirtschaftlich so gut entwickelt wie der Freistaat - trotz flächendeckender Deindustrialisierung, trotz der Abwanderung zumeist junger, gut ausgebildeter Menschen. Vor allem die Großstädte haben von der Leuchtturmpolitik der Neunzigerjahre profitiert. Kurt Biedenkopf, Sachsens erster Ministerpräsident, bedachte potenzielle Investoren seinerzeit mit einer einprägsamen Tiermetapher: "Wo Tauben sind, fliegen Tauben hin. Das Schwierigste ist, die ersten Tauben einzufangen."

Die Leuchttürme strahlen hell, doch abseits der urbanen Zentren wachsen die Schatten

Siemens ging 1994 ins Netz. Auf einem ehemaligen Militärgelände in der Dresdner Heide stampfte der Konzern in nur eineinhalb Jahren eine gigantische Chipfabrik aus dem Boden. Heute fasst das Cluster Silicon Saxony gut 350 Unternehmen und Forschungseinrichtungen der Mikroelektronik-, Halbleiter- und Photovoltaikbranche, und auch sonst gibt es Erfolge zu vermelden: In Görlitz plant Siemens ein Wasserstoffzentrum. Am Flughafen Leipzig/Halle soll bald das Kurzstreckenflugzeuges Dornier 328 Turboprop gebaut werden. In Zwickau werden von 2021 an E-Autos der Marken VW, Audi und Seat vom Band laufen. Das Erzgebirge ist endlich Weltkulturerbe. Der Tourismus boomt.

Die Leuchttürme strahlen hell im Freistaat, doch abseits der urbanen Zentren wachsen die Schatten. Um zu verstehen, warum sich 30 Jahre nach dem Mauerfall viele Menschen zurückgesetzt fühlen, hilft ein Blick in den "Deutschlandatlas" der Bundesregierung. Ob Bruttoinlandsprodukt, verfügbares Einkommen oder Anteil der unter 18-Jährigen - stets erwecken die Karten den Eindruck, das Land sei noch immer geteilt: So nehmen ostdeutsche Städte und Gemeinden pro Kopf nur halb so viele Steuern ein wie westdeutsche Kommunen. Das hat auch damit zu tun, dass die meisten Betriebe im Osten noch immer verlängerte Werkbänke westdeutscher Firmen sind. Ein Großteil der Gewerbesteuern wird an den Hauptsitzen in Bayern oder Baden-Württemberg abgeführt. Hinzu kommen die niedrigeren Löhne: Während Vollzeitbeschäftigte im Westen 2018 durchschnittlich 3434 Euro pro Monat brutto verdienten, bekamen Arbeitnehmer im Osten nur 2707 Euro. Schlusslichter: das Erzgebirge und der Landkreis Görlitz.

Die Kluft zwischen Stadt und Land ist das bestimmende Thema im sächsischen Wahlkampf. Als das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) anregte, nur noch prosperierende Zentren zu fördern und den ländlichen Raum hintanzustellen, rollte eine Welle der Empörung durchs Land. Derzeit vergeht kein Auftritt von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ohne die Ankündigung, man werde genau das Gegenteil tun.

Kretschmer ist in Görlitz geboren, kämpft dort ums Direktmandat. Er kennt die Probleme der Lausitz. 60 000 Menschen haben seit der Wende ihre Jobs verloren, und bis die Eimerkettenbagger stillstehen, werden es noch einmal um die 8000 sein. Seit der Schließung der Tagebaue steigt das Grundwasser an. In den Plattenbauten der einstigen Musterstadt Hoyerswerda sind die Keller feucht, die Spree verockert, weil Sulfat und Eisen aus dem sauren Boden gewaschen werden. Die braune Brühe fließt Richtung Berlin, und wer ein düsteres Bild sucht für die politische Stimmung im Land, wird in der Lausitz schneller fündig als anderswo. Der Ministerpräsident aber setzt auf Zuversicht. Der Strukturwandel, sagt Kretschmer, sei eine einmalige Chance für die Lausitz. Er will Institute und Bundesbehörden in den östlichsten Osten holen und eine Sonderwirtschaftszone einrichten. Irgendwann soll ein ICE von Berlin über Görlitz bis in die Ukraine fahren. Bahntrassen erschließen, Unternehmen locken, Mut machen - reicht das, um Menschen, deren Enkel im Westen aufwachsen, den Glauben an eine Zukunft zu geben? Reicht es, um Wahlen zu gewinnen?

Ein Anruf bei Joachim Ragnitz. Der stellvertretende Leiter der Ifo-Niederlassung in Dresden zog 1994 von West nach Ost, war zunächst 13 Jahre lang Abteilungsleiter am IWH. Heute bewohnt er ein Haus in Bitterfeld, unter der Woche 40 Quadratmeter in Dresden. Die These seiner ehemaligen Kollegen teilt Ragnitz nicht: "56 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung leben im ländlichen Raum, die kann man nicht einfach vernachlässigen." Eine Konzentration auf potenzielle Wachstumspole sei vernünftig, so der Ökonom. Aber die gebe es eben auch in Grimma, Oschatz oder Reichenbach - in "Städten, die es nach der Wende schwer getroffen hat, auf die aber selten jemand schaut". Erfolge seien auch an der Peripherie möglich.

"Subventionen allein werden das Erzgebirge oder die Lausitz nicht retten."

In Torgau soll ein Glascampus neue Impulse in der Keramik- und Baustoffindustrie setzen, im Vogtland ein Bundeskompetenzzentrum für Kälte- und Klimatechnik entstehen. In deutschen Chefetagen zeigt eine Uhr aus Glashütte am Handgelenk nicht nur die Zeit an, sondern auch, dass man es geschafft hat. Doch Ragnitz dämpft den Optimismus. "Subventionen allein werden das Erzgebirge oder die Lausitz nicht retten", sagt er. Auch weil qualifiziertes Personal und die Attraktivität der großen Städte fehlen. "Das Problem ist nicht, dass in zwanzig Jahren die Braunkohleverstromung aufhört, sondern der massive Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung", so Ragnitz. 300 000 Arbeitskräfte werden Sachsen in zehn Jahren fehlen.

Dass jenseits sächsischer Großstädte mancherorts jeder Dritte AfD wählt, erklärt der Ökonom auch mit Versäumnissen der seit 29 Jahren regierenden CDU. Die Partei habe sich zu lange in den eigenen Erfolgen gesonnt. "Man hat stets herausgestellt, wie großartig und zukunftsfähig dieses Sachsen ist. Dabei sieht die Lebensrealität der meisten Menschen anders aus. Auf dem Land interessieren keine Hightech-Produkte, sondern ob der Bus fährt, eine Schule da ist und genug Polizisten", so Ragnitz. Das Ergebnis: Entfremdung.

Blühende Landschaften und sanierte Fassaden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gasthöfe wegen Personalmangels schließen, Ärzte ohne Nachfolger in Rente gehen. Ob der ländliche Raum lebenswert bleibt, hängt oft auch vom Engagement Einzelner ab. In Hohenstein-Ernstthal, der Geburtsstadt Karl Mays, hat Anne Anders aus der Not ein Start-up gemacht. Anders, 32, ist in der Nähe von Chemnitz aufgewachsen, hat in Berlin studiert, zuvor als Zahnarzthelferin in Starnberg gearbeitet, vermögenden Pensionären Rechnungen über Keramikprothesen ausgestellt. "Ich hatte manchmal das Gefühl, in einem völlig anderen Land zu leben", sagt sie. Heute ist Anders mit einem Dachdeckermeister verheiratet, 2012 kehrte sie der Liebe wegen nach Sachsen zurück.

Die Dachdeckerei Anders in Hohenstein-Ernstthal gibt es seit 125 Jahren. Biberschwanzziegel, Naturschiefer, Betondachstein - die Auftragsbücher sind so voll, dass immer öfter Spezialwerkzeug oder Arbeitskraft fehlte, sagt Anders. Auch das Handwerk habe ein Nachwuchsproblem: "Auf Berufsmessen schauen Schüler nur noch wegen der Kekse an unserem Stand vorbei." 2017 hat das Ehepaar Anders die Webseite deinhandwerk.de aufgesetzt. Dort können Unternehmen offene Kapazitäten melden, Personal, Materialreste oder Arbeitsgeräte als Angebot einstellen, im Gegenzug Suchanzeigen aufgeben. "Wir schaffen so zwar nicht mehr Fachkräfte, aber sorgen für bessere Verteilung", sagt Anders. Im März erhielten sie für ihre Idee den Bundespreis für hervorragende, innovative Leistungen für das Handwerk. Noch nutzen hauptsächlich regionale Firmen das Portal, der Umsatz ist gering, aber man sei im Gespräch mit Investoren, sagt Anne Anders. Sie wünscht sich mehr Unterstützung für Gründer. Nur so könne man junge Leute in der Region halten und der Unzufriedenheit entgegenwirken.

Bei der Gemeinderatswahl im Mai erhielt die AfD in Hohenstein-Ernstthal 20,5 Prozent der Stimmen. Als die Partei Wochen später mit donnernden Reden in den Landtagswahlkampf zog, spielten eigene wirtschaftspolitische Ziele kaum eine Rolle. Parteichef und Spitzenkandidat Jörg Urban zitierte stattdessen den Komiker Dieter Nuhr: "Die Chemiebranche ist den Bach runter. Die Energiewirtschaft wickeln wir gerade ab. Atomausstieg, Kohleausstieg, jetzt stehen nur noch ein paar Windräder rum. Die Banken haben sich selbst zerschossen. Nun sind wir auch noch dabei, unsere Autoindustrie zu vernichten."

Die Branchenvereine Silicon Saxony und Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen setzen der Vision ökonomischer Verheerung eine eigene Kampagne entgegen. Titel: "Sachsen bleibt neugierig, mutig und offen." Wenige Tage vor der Wahl ist der Freistaat ein Land vieler Wirklichkeiten. Die Versöhnung steht noch aus.

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Quelle:
SZ vom 27.08.2019
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