Süddeutsche Zeitung

Report:Revolution, sofort

Lesezeit: 8 min

Ein spannendes Experiment: Serbiens Regierung treibt die Modernisierung und Digitalisierung zügig voran.

Von Thomas Fromm

Ana Brnabić will die Revolution, jetzt und sofort, und zwar überall im Land. Von der Hauptstadt über die kleinen Städte bis ins kleinste Dorf, von den Ministerien der Hauptstadt über die Finanzämter der Provinz, von den Klassenzimmern über die Behördenflure und Arztpraxen bis in die Büros und Wohnzimmer hinein. Es sollte eine leise, intelligente, demokratische Revolution sein, eine Revolution der Bits and Bytes, die ein Land verändern soll, das bisher vor allem vom Stahl, vom Bergbau oder der Textilindustrie gelebt hat und immer noch unter den Wunden eines fürchterlichen Kriegs leidet, der vor nicht mal zwei Jahrzehnten stattfand.

"Serbien war nicht unter den Gewinnern der dritten industriellen Revolution", sagt die serbische Ministerpräsidentin, "deshalb sollten wir dafür kämpfen, zu den Gewinnern der vierten Revolution zu gehören." Die dritte Revolution: Das war die Automatisierung in den Fabriken. Die vierte: Das ist das Internet der Dinge, die vernetzte Wirtschaft - und da will Serbien mit dabei sein, ganz vorn, auch wenn das Land mit der Digitalisierung erst im vorigen Jahr so richtig begonnen hat. "Dies würde uns", sagt Ana Brnabić, "auch helfen, unser zentrales Ziel zu erreichen: Eine Mitgliedschaft in der EU ist unser strategischer Haupt-Fokus."

Ana Brnabić sitzt an diesem Oktobertag in einem Konferenzraum ihres Amtssitzes im Zentrum von Belgrad. Sie ist die erste Frau in diesem Job in Serbien, sie trägt ein blau-weiß kariertes Jackett, ist 43 Jahre alt, Studium in den USA, jahrelange Managementerfahrung, unter anderem im Windenergiegeschäft, seit Juni 2017 Premierministerin des Landes. Als die junge Regierungschefin, die offen lesbisch lebt und bei der Belgrader Homo-Parade mitmarschiert, ins Amt kam, waren nicht wenige Serben überrascht. Kann die das? Hat sie die Kraft, die Wirtschaft dieses nicht sonderlich reichen, aber sehr stolzen und konservativen Landes umzukrempeln?

Partei-, aber nicht ziellos: Ana Brnabić will aus Serbien ein anderes, ein moderneres Land machen. Ihr Traum: Serbien als eine Art Digital hub für den gesamten Balkan. Junge, qualifizierte Menschen sollen hierherkommen, um zu arbeiten. Und sie sollen bleiben und nicht gehen, um in Vancouver, San Francisco oder Berlin zu arbeiten. "Wir investieren rund 100 Millionen Euro in Wissenschaftsprojekte und innovative Infrastrukturen, damit es für junge Menschen attraktiv ist, hier zu bleiben."

Belgrad im Herbst 2018, das ist eine pulsierende Stadt mit Restaurants, Kneipen und Liveclubs, in der man hier und da aber auch noch die Spuren des Balkankriegs sieht. Die serbische Metropole sei inzwischen so etwas wie das Berlin des Balkans geworden, sagen Leute vor Ort: immer wieder neue Läden, immer wieder neue Adressen. Eine Stadt, die vor allem junge Leute anzieht. Oft aber nur für ein Partywochenende.

Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegen dabei oft nur ein paar Hundert Meter. Wenn man sich - zum Beispiel - vor dem Amtssitz von Ana Brnabić im Zentrum von Belgrad links hält und an der ersten großen Kreuzung in den großen Boulevard Kneza Miloša einbiegt, steht man vor den Trümmern der jüngeren Vergangenheit dieses Landes. Hier, nur ein paar Hundert Meter vom Büro der serbischen Ministerpräsidentin entfernt, waren einmal das Verteidigungsministerium und der Generalstab der Armee untergebracht. Bis zum April 1999, als dann in der Nacht die Bomber der Nato kamen und die Gebäude zerlegten. Fast 20 Jahre später stehen die zerbombten Betonkästen immer noch da. Zwei Polizisten patrouillieren vor den Ruinen. Als ob es in Serbiens Vergangenheit noch irgendetwas zu bewachen gäbe.

Wenn man nun den Amtssitz der Premierministerin statt links abzubiegen rechter Hand verlässt und die Straße Nemanjina hinuntergeht, steht man nach einem guten Kilometer vor der Zukunft des Landes. Sie liegt versteckt in einem grauen Altbau in der Savska-Straße. Die Gegend schräg gegenüber dem ehemaligen Bahnhof hat schon bessere Tage gesehen, aber andererseits: In welcher anderen Hauptstadt kann man Co-Working-Büroplätze so nahe am Regierungssitz anmieten?

Daneben ein altes Hotel, die Tür zur Hausnummer 5 ist unscheinbar. Dahinter ein großes Loft, hier ist die Start-up-Communitiy Startit untergebracht. Große Fenster, große helle Räume, alter Steinfußboden, eine Tischtennisplatte am Eingang. Willkommen in einem Belgrader Co-Working-Projekt. Um einen großen Tisch herum sitzen junge Leute vor ihren Computern, einige programmieren, andere konferieren, wieder andere trinken Kaffee. Startit bezeichnet sich selbst als eine Nonprofit-Organisation, die 2012 als Tech-Blog begann. Nevenka Rangelov betreut heute den Blog, sie kennt die lokale Szene mit ihren Start-ups. "Wir sehen uns hier als Aktivisten", sagt sie. "Und wir wollen die Stimme einer ganzen Community sein."

Startit, das ist nicht zufällig auch eines der Projekte, die sich die Premierministerin ganz genau anschaut. "Wir sprechen oft mit der serbischen Regierung und beraten sie", sagt Rangelov.

Es gibt sie bereits, die größeren Start-ups des Landes. Sie heißen Nordeus, Fishing Booker oder Seven Bridges Genomics. Sie programmieren Online-Fußballspiele, organisieren auf Bestellung personalisierte Angeltouren oder forschen im Bereich der Biomedizin. "Wir haben einige sehr gute Start-ups hier", sagt Nevenka Rangelov. "Unser Ziel ist es, all diese Leute zusammenzubringen, um eine echte Start-up-Kultur in Serbien aufzubauen."

Einer, der mit an dieser Kultur baut, ist Slavko Fodor. Ein junger Mann in den Dreißigern, der sich gerade seinen Jungentraum erfüllt: Er arbeitet an einem Fußball-Videospiel. Fodor ist ein Rückkehrer: Fünf Jahre hatte der Programmierer bei Facebook im Silicon Valley gearbeitet, dann kam er zurück nach Europa. "Ich hatte einen sehr gut bezahlten Job in Kalifornien, aber ich habe mich am Ende da nicht mehr wohlgefühlt", sagt er. "Ich bekam Heimweh, und da war es das Natürlichste, wieder zurück nach Hause zu gehen." Von Menlo Park nach Belgrad, jetzt sitzt er in der Savska 5 und programmiert ein Spiel, das "Football Clash Arena 2018" heißt. Und hofft, dass er und seine beiden Start-up-Kollegen mit ihrem Spiel Erfolg haben, so wie die größeren Anbieter der Branche. Wenn es geht, gerne auch weit über Serbien hinaus. "Wir möchten, dass unsere Leute verstehen, dass sie sich nicht nur auf Serbien konzentrieren sollen, sondern die Dinge global sehen", sagt Nevenka Rangelov. "Warum soll man sich auf sieben Millionen Menschen beschränken, wenn man Milliarden Menschen als Kunden haben kann?" Ein Land zu digitalisieren und eine Start-up-Szene aufzubauen, ist das eine. Damit internationalen Erfolg zu haben, noch mal etwas anderes.

Bosch, Siemens, Leoni sind da - und natürlich auch einige Chinesen

Eine der großen, unbeantworteten Fragen derzeit: Was wird aus Serbien in den nächsten Jahren? Die Spannungen zwischen Belgrad und der einstigen Provinz Kosovo und die unterschiedlichen Positionen beim Grenzverlauf zwischen beiden Ländern zählen zu den politischen Knackpunkten in der Balkanpolitik der EU. Doch allein die Aussicht auf einen EU-Beitritt in den kommenden Jahren - einige meinen, im Jahr 2025 könnte es so weit sein -, die vergleichsweise niedrigen Löhne, eine wachsende Wirtschaft und die geografische Lage laden vor allem Investoren aus Deutschland und Österreich ein. Die EU- Kommission erwartet für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 3,3 Prozent. Bosch, der Vorarlberger Leuchtenkonzern Zumtobel, der Nürnberger Automobilzulieferer Leoni - sie alle investieren. Auch chinesische Investoren haben Serbien längst entdeckt. Nicht zuletzt, so heißt es, weil sie hier nur wenige bürokratische Hürden für ihre Investments vorfinden. Von einem "strategisch günstigen Einfallswinkel auf dem Balkan" spricht ein Insider.

Das Kalkül der Regierung: Je moderner das Land wird, desto attraktiver wird es auch für Investoren. "2013 standen wir kurz vor dem Bankrott", sagt Premierministerin Brnabić, "die Arbeitslosigkeit lag bei 24 Prozent. Als ich im vergangenen Jahr das Amt übernahm, hatte ich eine komplett andere Situation vorgefunden. Verschuldungs- und Arbeitslosenquote waren unten. Es war ein guter Zeitpunkt, um mit der Digitalisierung zu beginnen."

Am westlichen Stadtrand hat Siemens seine Serbien-Dependance. An die 2700 Menschen beschäftigen die Münchner in dem Land, angeboten wird: das komplette Programm des Technologiekonzerns. Energieerzeugung, Windräder, digitale Fabriken, Züge, Mobilität, Medizintechnik. "Die Verschuldung Serbiens ist gering, die Arbeitskräfte sind ausgebildet und im internationalen Vergleich günstig. Serbien ist eines der spannendsten Ländern, in denen man heute sein kann", sagt der Landeschef von Siemens in Serbien, Udo Eichlinger. Und er war immerhin schon einige Jahre in China und in Dubai, bevor er vor drei Jahren nach Belgrad kam. Die Digitalisierungspläne der Regierung seien "ein interessanter und richtiger Schritt". Allerdings sagt Eichlinger auch: "Es werden große Investments nötig sein, um das zu stemmen."

Wie aber macht man das, so ein Land zu digitalisieren? Zuerst einmal gründet man eine Regierungsstelle, die das Ganze koordiniert. Das Belgrader Büro für Informationstechnologien und E-Government wurde vor rund einem Jahr gegründet, seitdem koordiniert es nun die Datenzentren des Landes, die IT-Sicherheit und den Datenschutz der Behörden, den Ausbau staatlicher Informationssysteme und elektronischer Dienstleistungen und der Netze. Dinge also, die vorher an allen möglichen Stellen erledigt wurden.

Im ersten Jahr seien, sagt Mihailo Jovanovic, der Direktor des Büros, schon einige konkrete Projekte auf den Weg gebracht worden, darunter der Ausbau der IT-Infrastrukturen, die Arbeit an einer automatischen Gesundheitskarte, ein Informations- und Kommunikationsnetzwerk für die elektronische Verwaltung und ein Informationssystem für die lokalen Steuerbehörden. Dazu komme, so Jovanovic, ein regelmäßiger Austausch mit Start-up-Unternehmen, um schneller Innovationen umzusetzen. "Wir haben staatliche Hackathons veranstaltet, in denen Dutzende Teams an der Entwicklung des neuen E-Government-Portals gearbeitet haben."

Große Infrastrukturprojekte stehen an, um die Pläne der Regierung umzusetzen. Neben dem Bau eines neuen, großen Datenzentrums in der zentralserbischen Stadt Kragujevac für rund 30 Millionen Euro, der im Frühjahr 2019 beginnen soll, steht der Ausbau des Breitbandnetzes ganz oben auf der Liste. "Unser Ziel ist, alle Grund- und weiterführenden Schulen in Serbien in den nächsten drei Jahren an ein solches Breitbandnetz anzuschließen, um im Unterricht mit digitalen Lehrbüchern arbeiten zu können", sagt Mihailo Jovanovic.

"In der Bildung haben wir schon einen großen Sprung gemacht", meint auch Ana Brnabić, die Premierministerin. "Wir haben Programmiersprachen und erste digitale Lehrbücher in der Schule eingeführt, damit Lernen interessanter wird und mehr Spaß macht." Schulen, elektronische Register, transparente Ausschreibungsverfahren, mehr elektronische Kontrollmöglichkeiten - mit der Digitalisierung will sie da ansetzen, wo es im Land noch hakt. "Eine elektronische Verwaltung hilft uns, Korruption zu bekämpfen, weil wir die Arbeit der Regierung transparenter und effizienter machen." Das klingt nach mehr als nach Laptops und Breitbandkabeln. Die Politikerin will ihr Land nicht nur technologisch modernisieren.

Bei ihren Vorbereitungen für die nächste große Revolution hat sie mächtige Verbündete. Eine davon heißt: Initiative Digital Serbia, gegründet nach dem Vorbild der Initiativen Digital Switzerland und Digital Poland im Frühjahr 2017 von dem Medienunternehmen Ringier Axel Springer Serbia. "Das ist essenziell, schlussendlich werden nicht einzelne Länder gegen die Innovations- und Investitionskraft der USA und Chinas bestehen können, sondern Europa als Ganzes", sagt Ringier-Chef Marc Walder. Die Initiative fungiert heute als Verein, zu den Mitgründern gehören Startit, die Telekom Serbija, Pricewaterhouse Coopers und das Gaming-Unternehmen Nordeus. Ihr Ziel: Mehr Investitionen, mehr Ausbildung, mehr Internationalität, mehr innovative Unternehmen.

"Die Digitalisierung verändert die Art zu denken, und die müssen wir unbedingt verändern."

Eine der Initiatorinnen des Programms ist Jelena Drakulić. Die Geschäftsführerin von Ringier und Springer in Serbien hat ihr Büro in einem alten Belgrader Industriegebäude. Gleich darunter ein Großraumbüro, in dem die Redakteure der serbischen Tageszeitung Blic arbeiten. Print, Digital, Videokanäle - die Zukunft ist hier schon angekommen. Die Initiative Digital Serbia sei mehr als eine dieser "typischen Business Communitys", sagt Drakulić. Man teile schließlich "langfristige Interessen". Wagniskapitalgeber ins Land holen, Start-ups groß machen, den Markt verändern - und das Land gleich mit. "Unsere Wirtschaft basiert auf staatseigenen Unternehmen", sagt Jelena Drakulić. "Dort finden wir eine andere Denkweise vor als zum Beispiel in unserem Unternehmen. Viele von denen, die in den Staatsbetrieben arbeiten, glauben immer noch, dass die Dinge früher in der sozialistischen Zeit besser liefen. Wir haben es mit einem Mentalitätsproblem zu tun." Die Hoffnung der Medienmanagerin: "Die Digitalisierung verändert die Art zu denken, und die müssen wir unbedingt verändern." Und sie erzählt die Geschichte eines der Mitgründer der Initiative, der nach 25 Jahren aus Kanada zurückkam. Warum er das tat, obwohl er einen gut bezahlten Job hatte? Er sei finanziell unabhängig gewesen und habe etwas tun wollen, das der Gesellschaft hilft, sagt sie.

Die vierte industrielle Revolution in Serbien, sie ist gerade erst am Anfang. Premierministerin Ana Brnabić glaubt, dass solche Dinge in ihrem Land besser funktionieren können als in anderen, größeren Staaten. Die Dinge sind überschaubarer und lassen sich daher schneller und besser planen und umsetzen. "Das ist ein Vorteil, vielleicht zum ersten Mal in unserer Geschichte", sagt sie. "Deshalb sage ich allen: Wacht auf, das hier ist unsere Zeit. Wenn wir diese Chance verpassen, wird es lange dauern, bis wir wieder so eine Chance bekommen."

Oder, wie es Jelena Drakulić sagt: "Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren und sollten keinen Zug mehr verpassen. Wir haben schon einige Züge verpasst."

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Quelle:
SZ vom 10.11.2018
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