Süddeutsche Zeitung

Logistik:Paketdienste am Limit

Lesezeit: 3 min

Von Benedikt Müller, Bochum

Kurz vor zwölf bricht in Bochum eine neue Zeit an. Die Ehrengäste betätigen den roten Buzzer. Mit lautem Grollen rollen die Bänder an, Warnlampen blinken auf. Am einen Ende des neuen Paketzentrums hieven Männer nun kiloschwere Päckchen aufs Fließband; gerade sind die einer Kosmetikmarke und eines Modehändlers an der Reihe, sie fahren empor zum Scanner. Kurz darauf purzeln am anderen Ende Pakete die verschiedenen Rutschen hinunter. Ganz Deutschland ist hier nach Postleitzahl sortiert: Alles mit 58 etwa geht nach Hagen, alles mit 85 nach Aschheim.

Die Deutsche Post hat mehr als 100 Millionen Euro in das neue Zentrum in Bochum investiert. Denn dem früheren Staatskonzern reichen seine 33 Paketzentren aus den Neunzigerjahren schlichtweg nicht mehr. "Diese Standorte sind auch physisch irgendwann an ihren Grenzen", so Post- und Paketchef Tobias Meyer.

Es mangelt zwar nicht an Kritik am Paketboom und seinen Folgen: dem Verpackungsmüll der Sendungen und Retouren, den Abgasen der Paketlaster, den prekären Arbeitsbedingungen Zehntausender Boten. Und den Problemen von Händlern, wenn Kunden immer mehr im Internet bestellen. Doch die Branche wächst trotzdem. Gut 3,5 Milliarden Paket-, Express- und Kuriersendungen wurden 2018 durch Deutschland geschickt, rechnet der Bundesverband Paket und Expresslogistik (BIEK) vor, so viele wie nie zuvor. Und auch künftig dürfte der Markt um sechs bis sieben Prozent pro Jahr wachsen, prognostiziert Post-Vorstand Meyer.

Bis zu 50 000 Pakete sollen pro Stunde sortiert werden

Der Konzern und seine Konkurrenten stoßen daher in neue Größenordnungen vor: So soll das neue DHL-Zentrum für das Ruhrgebiet bis zu 50 000 Pakete pro Stunde sortieren können. Nach Obertshausen bei Frankfurt ist Bochum der zweite Standort dieser Größenordnung. "Im Bau ist der dritte vor den Toren Berlins", sagt Meyer. Auch Konkurrent Hermes hat kürzlich etwa in Hamburg aufgerüstet, DPD in Hamm neu gebaut.

Und keine Zeit zeigt den Wahnsinn so deutlich wie die Wochen vor Weihnachten. Alleine die Post erwartet an Spitzentagen bis zu elf Millionen Pakete hierzulande. Seit Monaten bereite man sich darauf vor, "mit diesen Paketbergen klarzukommen", sagte Finanzchefin Melanie Kreis kürzlich.

Mehr als 20 000 zusätzliche Arbeitskräfte wollen die großen Paketdienste in der Zeit zusätzlich einsetzen, wenn man ihre Ankündigungen zusammenrechnet. Manche stellen Boten befristet an; viele setzen auf Zeitarbeitsfirmen oder Subunternehmer. Obendrein sollen in den nächsten Wochen mehr als 10 000 Fahrzeuge zusätzlich für Paketdienste unterwegs sein.

Der Engpass sind die Arbeitskräfte

Man habe vor Weihnachten also "auch deutlich mehr Kosten", so Post-Vorstand Kreis. Der Dezember sei keineswegs der profitabelste Monat der Paketsparte, "im Gegenteil". Doch will es sich kein Paketdienst leisten, in der wichtigsten Jahreszeit nicht für Versandhändler zur Verfügung zu stehen. Denn es sind vor allem Onlineshops, die mit der Post und ihren Konkurrenten um einen möglichst günstigen Versand ringen. 5,80 Euro nahm ein Paketdienst zuletzt im Schnitt pro Sendung ein, so der BIEK, weniger als 2016 und davor.

Die Logistik werde zur Herausforderung "auf einem nahezu leer gefegten Arbeitsmarkt", drückt es Marco Schlüter aus, bei Hermes Deutschland fürs Operative zuständig. Hermes verlangt im November und Dezember einen Zuschlag, den große Auftraggeber für alle Sendungen zahlen müssen - auch für Retouren; Pakete privater Absender sind nicht betroffen. Auch UPS erhebt bis Anfang Januar einen "Saisonzuschlag" für besonders große, schwere oder kompliziert verpackte Sendungen. Und GLS nehme in der Vorweihnachtszeit gleich gar keine neuen Vertragskunden auf, erklärte Deutschlandchef Martin Seidenberg kürzlich, damit die Qualität für bestehende Kunden nicht leide. All das zeigt, wie sehr Paketdienste in diesem Winter an ihre Grenzen geraten.

Seit der Finanzkrise 2009 hat die Branche Jahr für Jahr Tausende neue Arbeitsplätze geschaffen - einige freilich unter grenzwertigen Bedingungen. So sah der Zoll nach einer Razzia in diesem Jahr in mehr als 2000 Fällen Anhaltspunkte, dass Subunternehmer etwa den Mindestlohn unterschritten oder ihren Fahrern Sozialversicherungsbeiträge vorenthalten haben könnten. Daraufhin hat der Bund ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach Paketdienste künftig für Arbeitsbedingungen von Subunternehmern haften.

Umso mehr betont die Post, dass die 600 neuen Arbeitsplätze in Bochum allesamt sozialversicherungspflichtig und tarifgebunden seien. Allerdings hat der Konzern auch den historisch gewachsenen Wettbewerbsvorteil, dass zumindest auf dem Land ein und derselbe Postbote Briefe und Pakete austrägt; das spart Kosten.

Bis 2014 rollten hier Autos vom Band

Der Bau in Bochum zeigt aber auch die Ambivalenz des Logistikbooms. Denn, so erinnert der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bei der Eröffnung: "Dieser Ort hat in der Vergangenheit auch schlechte Nachrichten zu verkraften gehabt." Wo DHL fortan Pakete sortiert, stellte Opel bis 2014 Autos her. Gut 3000 Menschen verloren ihre Arbeit, als das Zafira-Werk schloss. Die 600 neuen Paketjobs können da weder quantitativ noch qualitativ mithalten.

Noch bis 2022 bereitet eine Projektgesellschaft von Opel und der Stadt die Brache auf und beseitigt - auch mit Landesförderung - die Altlasten. Bis auf das denkmalgeschützte Verwaltungsgebäude aus roten Klinkern ist von Opel nichts mehr übrig. 60 Prozent der Fläche habe man schon vermarktet, sagt Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (SPD); die Neuansiedlungen würden insgesamt mehr als 6000 Arbeitsplätze schaffen. Neben DHL haben die Bochumer etwa ihre Ruhr-Universität sowie Softwarefirmen an Land gezogen; die Mischung stimme also. "Wissen schafft Wirtschaft", haben sie auf das Baustellenschild vor dem alten Werkstor geschrieben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4686484
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.11.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.