Süddeutsche Zeitung

Pipers Welt:Wetterbericht

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Die Ökonomen haben den Meteorologen einige Methoden abgeschaut. In unsicheren Zeiten können kurzfristige Prognosen für ein klareres Bild sorgen.

Von Nikolaus Piper 

Meteorologen und Ökonomen sind recht unterschiedliche Leute. Die einen betreiben Natur-, die anderen Sozialwissenschaft; ein Wetterbericht ist nur sehr schwer durch politische Meinungen zu beeinflussen, ein volkswirtschaftliches Gutachten dagegen schon. Eines immerhin haben Wetter-und Wirtschaftskundler gemein: Die meisten unter ihnen müssen Prognosen schreiben, und die sind "schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen", wie Karl Valentin gesagt haben soll.

Was die Verlässlichkeit betrifft, haben die Meteorologen in jüngster Zeit deutlich aufgeholt. Wetterberichte sind heute ungleich besser als früher, was jeder bestätigen kann, der in den 1960er- oder 70er-Jahren einmal einen Wanderausflug mithilfe der Vorhersagen aus dem Radio plante. Verantwortlich für den Fortschritt sind neue Wettermodelle, leistungsfähigere Computer und viel mehr Daten. Wenn der Wetterdienst für die nächsten drei Tage Regen vorhersagt, kann man sich in der Regel darauf verlassen.

Ökonomen können vor allem lernen aus den sogenannten "Kürzestfristvorhersagen", mit denen Meteorologen das Wetter innerhalb von ein paar Stunden abschätzen. Wenn jemand, sagen wir, auf der Loreley ein Open-Air-Konzert mit Bob Dylan plant, dann ist es für ihn überaus hilfreich am Morgen zu wissen, ob am Nachmittag Starkregen mit Hagel zu erwarten ist oder nicht. Solches "Nowcasting" für einen bestimmten Ort muss ohne Modelle auskommen, weil es solche, etwa für die Loreley, nicht gibt. Stattdessen müssen die Forscher Radarbilder heranziehen und Schlüsse daraus ziehen, wie sich das Wetter an anderer Stelle bei ähnlichen Bildern entwickelt hat.

Auch für Wirtschaftspolitiker, für die Europäische Zentralbank oder für Investoren kann eine sehr kurzfristige Schätzung des Wirtschaftswachstums viel wert sein - nicht für die nächsten zwölf Stunden, wohl aber für ein oder zwei Monate. Solche Schätzungen überbrücken die Zeit, die zwischen der Veröffentlichung von offiziellen Konjunkturdaten vergeht. Das Statistische Bundesamt zum Beispiel veröffentlicht die Wachstumsprognosen immer im Quartalsrhythmus. In der Zwischenzeit fallen jedoch wirtschaftspolitische Entscheidungen. Bei denen wäre es von Vorteil, hätte man zum Beispiel bereits Mitte Juli eine einigermaßen verlässliche Schätzung für das Wachstum im zweiten Quartal.

Mittels Nowcasting lassen sich Wendepunkte besser erkennen

Deshalb wird Nowcasting in der Ökonomie immer wichtiger. Erste Versuche gab es schon Anfang der 1930er-Jahre in der Weltwirtschaftskrise. Seit 2012 veröffentlicht die Federal Reserve Bank von Atlanta, die Landeszentralbank für den Südosten der USA, regelmäßig einen "Nowcast" (im Gegensatz zum "Forecast") für das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft ("GDPNow"). Was den Meteorologen Radarbilder, das sind den Ökonomen in Atlanta die Zahlen der Bauindustrie, die Autoverkäufe, aber auch weiche Daten wie Umfragen unter amerikanischen Einkaufsmanagern ("ISM Index"). Aus den Ergebnissen wird mittels einfacher Statistik eine Schätzung ermittelt. Der jüngste Wert liegt für das zweite Quartal bei 4,1 Prozent.

Solche Schätzungen sind aber nicht nur gut für ein paar Spekulanten. Sie können auch dabei helfen, Wendepunkte im Konjunkturzyklus zu entdecken, wie es in einem Arbeitspapier der Federal Reserve Bank von New York heißt. Diese Wendepunkte, wenn ein Aufschwung in den Abschwung übergeht, sind ein altes Problem der Konjunkturforschung. Die üblichen Modelle können den Umschwung meist nicht vorhersagen. Fast niemand hat seinerzeit die Finanzkrise vorhergesagt, denn deren Auslöser, ein Einbruch der Immobilienpreise in den gesamten Vereinigten Staaten zur gleichen Zeit, war in keinem Modell vorgesehen. Richtig lag dagegen der New Yorker Ökonom Nouriel Roubini; er verfügte über kein ausgefeiltes Instrumentarium, sondern verglich einfach die Entwicklung in den USA um das Jahr 2005 mit der in solchen Ländern der Dritten Welt, die eine Finanz- und Schuldenkrise durchmachten, und entdeckte parallele Muster.

Nowcasting kann besonders wichtig werden in Zeiten der Unsicherheit wie heute. Einerseits wächst die Weltwirtschaft synchron und kräftig, Deutschland erlebt den längsten Aufschwung seit 1991. Andererseits hängt so viel Unsicherheit über der Weltwirtschaft, wie schon lange nicht mehr - Donald Trumps Drohung mit Handelskriegen, die ungeklärte Rolle Chinas, Korea und schließlich die neue Europa-feindliche Regierung in Italien. Zudem ist in den großen Ländern Westeuropas das Wachstum im ersten Quartal 2018 schwächer geworden, in Deutschland von 2,9 auf 2,3 Prozent im ersten Quartal. Frage an Prognostiker: Ist das nun nur eine "Delle", wie die meisten Experten meinen?

Interessanterweise sind Ökonomen, die sich mit Nowcasting befassen, in der Sache skeptischer. Der Einbruch der Konjunktur im ersten Quartal sei "nicht nur eine normale Schwankung in einem ansonsten intakten Aufschwung", sagt der Münchner Analyst Martin Hüfner von der Finanzfirma Assenagon. Es werde zwar keine Rezession geben, aber zumindest das zweite Quartal werde schwach ausfallen. Der britische Analyst, Nowcaster und Blogger Gavyn Davies warnt sogar: "Wir sollten nicht darauf vertrauen, dass die optimistischen Konjunkturprognosen, die derzeit zu hören sind, auch tatsächlich wahr werden." Er beobachtete im Euroraum in den vergangenen Monaten einen scharfen Rückgang des Wachstums. In Deutschland zeigt sich diese im schwächeren Export und im Rückgang des Ifo-Geschäftsklimas.

Der Vorteil bei Nowcastern wie Davies liegt darin, dass man binnen weniger Wochen weiß, ob sie nun recht hatten oder nicht.

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SZ vom 25.05.2018
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