Süddeutsche Zeitung

Arbeit:Gut 60 Prozent aller Neueinstellungen im öffentlichen Dienst sind befristet

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Von Henrike Roßbach, Berlin

Der Stein des Anstoßes findet sich auf Seite 52 des Koalitionsvertrags: "Wir wollen den Missbrauch bei den Befristungen abschaffen", versprechen Union und SPD dort. "Deshalb dürfen Arbeitgeber mit mehr als 75 Beschäftigten nur noch maximal 2,5 Prozent der Belegschaft sachgrundlos befristen." Als "sachgrundlos" gilt eine Befristung, die nicht der Überbrückung von Elternzeiten, Krankheitsausfällen oder Ähnlichem dient; eine unsichere Auftragslage beispielsweise lassen Arbeitsgerichte nicht als Grund gelten.

Womit man im Zentrum eines Konflikts angekommen wäre, der in nächster Zeit für dicke Luft zwischen Wirtschaft und Bundesregierung sorgen dürfte. Nachdem sich die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) vergangene Woche schon gegen eine Verschärfung der Befristungsregeln gewehrt hat, bringt sich nun auch der Arbeitgeberverband Gesamtmetall in Stellung. "Die sachgrundlose Befristung darf nicht eingeschränkt werden", sagte Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger am Dienstag in Berlin. Das wirtschaftliche Klima verschlechtere sich, "die Unternehmen brauchen in solchen Zeiten mehr Flexibilität, nicht weniger".

"Die Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gleicht einem Lotteriespiel"

Um den eigenen Standpunkt zu untermauern, hat Gesamtmetall gleich drei Gutachten in Auftrag geben lassen: zu den personalplanerischen, verfassungs- und arbeitsrechtlichen Aspekten der Verschärfung. Dass Auftragsgutachten selten bis nie zu Ergebnissen kommen, die den Interessen der Auftraggeber vollkommen zuwiderlaufen, ist bekannt. Interessante Punkte gibt es in den Gesamtmetall-Gutachten dennoch. So löse der Schwellenwert von mehr als 75 Beschäftigten "verfassungsrechtliche Bedenken aus", sagte Markus Stoffels, Rechtsprofessor an der Universität Heidelberg, und verwies auf die "Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte".

Der Arbeitsrechtler Richard Giesen von der Ludwig-Maximilians-Universität München wies zudem darauf hin, dass Firmen so gut wie keine Möglichkeit hätten, auf Befristungen "mit Sachgrund" auszuweichen. Deren Anwendung in der Privatwirtschaft sei "praktisch ausgeschlossen". Die Wirtschaft ärgert vor allem, dass für sie strengere Regeln gelten sollen, obwohl das Phänomen der Befristung im öffentlichen Sektor weiter verbreitet ist. Dulger wies darauf hin, dass im öffentlichen Dienst fast jeder zehnte Mitarbeiter befristet beschäftigt sei, in der Metall- und Elektroindustrie dagegen nur vier Prozent. "Warum also soll in der Privatwirtschaft eine Quote von 2,5 Prozent eingeführt werden, während der öffentliche Dienst weiter nach Lust und Laune befristen kann?"

Dass im öffentlichen Dienst häufiger befristet wird, bestätigt auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl, die der SZ vorliegt. Demnach waren 2017 etwa 390 000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst (9,5 Prozent) befristet beschäftigt. In der Privatwirtschaft seien mit 2,1 Millionen Beschäftigten dagegen nur 7,1 Prozent befristet beschäftigt gewesen. Im öffentlichen Dienst lag der Befristungsanteil 2017 so hoch wie zehn Jahre zuvor, in der Privatwirtschaft 1,2 Prozentpunkte höher. Allerdings ist der Anteil bei Neueinstellungen im öffentlichen Dienst hoch: 2017 lag er bei 61 Prozent, nur jeder Vierte wurde danach unbefristet übernommen. In der Privatwirtschaft waren dagegen nur 40 Prozent der Neueinstellungen befristet, und 46 Prozent wurden übernommen. "Die Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gleicht einem Lotteriespiel", sagte Ferschel; sachgrundlose Befristungen sollten sowohl in der Privatwirtschaft als auch im öffentlichen Dienst abgeschafft werden.

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SZ vom 30.01.2019
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