Süddeutsche Zeitung

Navigation ohne Koordinaten:Bring.mich.hin

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Mit seinem neuen Adresssystem "What3Words" will der Engländer Chris Sheldrick vieles einfacher machen: Post zustellen, Flutopfer retten, Auto fahren. Das interessiert nicht nur Logistiker.

Von Theresa Parstorfer, München

Es war schon kurz vor dem Auftritt für eine Hochzeitsfeier in Italien, da bekam der Musikveranstalter Chris Sheldrick einen sehr ungewöhnlichen Anruf: Die Band hatte ihre Instrumente auf einer anderen Hochzeit aufgebaut - an einem völlig falschen Ort. Das Erlebnis ließ den 37-Jährigen nicht mehr los. Und es war nicht das erste Mal, dass Bands den Eingang eines Clubs nicht fanden, oder dass Produktionsfirmen die Instrumente an der falschen Bühne ablieferten, weil der Straßenname falsch buchstabiert gewesen war. Sie alle ließen Sheldrick zu dem Schluss kommen: Adressen, zumindest in der Form Straße, Hausnummer, Postleitzahl, reichen oft nicht.

Auch in Deutschland führen nur 33 Prozent der üblicherweise angegebenen Adressen direkt zur richtigen Tür. 18-stellige Längen- und Breitengrade sind auch keine Lösung, fand Sheldrick. Mit einem befreundeten Mathematiker tüftelte Sheldrick deshalb ein neues Adresssystem aus. Die beiden nannten es What3Words - welche drei Wörter. Mittlerweile arbeiten mehr als 80 Menschen für das 2013 gegründete Londoner Start-up, in Büros in den USA, der Mongolei und Südafrika. Es gibt Kooperationen mit Daimler, verschiedenen nationalen Post- und Lieferdiensten und der Deutschen Bahn. Sogar einen Fernsehauftritt hatte What3Words bereits: in der US-Krimi-Serie "NCIS: Los Angeles" retten die Polizisten neuerdings Geiseln mithilfe des Adresssystems. Ob das wirklich klappt, testet die Londoner Polizei derzeit im echten Leben.

Je drei Wörter in 57 Billionen Kombinationen beschreiben jeden Ort der Welt

Wie aber funktioniert das System? Ganz einfach, verspricht das Unternehemen. Man lege ein gedachtes Netz bestehend aus drei mal drei Meter großen Quadraten über die gesamte Erdoberfläche. Wie auf einem Schachbrett fällt so jedes Fleckchen Land oder auch Wasser in eines der Quadrate. Anders als bei Längen- und Breitengraden werden bei What3Words keine Zahlen, sondern Wörter zugeteilt. Drei an der Zahl, deshalb auch der Name. 57 Billionen Kombinationen waren nötig, damit jedes neun Quadratmeter-Kästchen drei unterschiedliche Worte bekommt. Der Parkplatz in Hamburg am St. Pauli Fischmarkt beispielsweise liegt auf Fische.Erde.Abheben.

Um eine solche Drei-Wort-Adresse herausfinden zu können, programmierte Sheldricks Unternehmen eine Weltkarte, die online abrufbar ist und ziemlich genauso funktioniert wie Google Maps, nur dass in einem kleinen roten Kasten über der gesuchten Adresse die drei Wörter erscheinen. Praktischer für den Gebrauch im Alltag ist vermutlich die kostenlose App, die sogar ohne Handynetz funktioniert. Will man sich mit einem Freund zum Fischkauf in Hamburg treffen, brauchen beide ein Smartphone plus App und schon kann man sich gegenseitig den eigenen Standort in drei Worten beschreiben beziehungsweise suchen. In die Suchfunktion kann entweder eine ganz gewöhnlich Adresse getippt werden, die App übersetzt diese sodann in eine Drei-Wort-Adresse und navigiert dorthin. Oder aber man sucht gleich nach einer Drei-Wort-Adresse, die beispielsweise von jemand anderem mit der App bereits gefunden wurde.

Für Sheldrick und seine zwei Mitgründer geht es allerdings nicht nur um die Beseitigung von Alltagsproblemen. Darüber hinaus "bergen Orte ohne Adressen ein riesiges ökonomisches Potenzial", sagt Sheldrick. So sieht man das auch bei DB Schenker. Als erstes Unternehmen der Bahn-Gruppe hat der Transport- und Logistikdienst das neue Adresssystem in seine Geschäftsabläufe integriert. "Anstatt dreimal um den Block zu fahren, bis sie das richtige Tor gefunden haben, kommen unsere Fahrer damit auch auf großen Messegeländen oder Terminals schneller ans Ziel", sagt ein Sprecher von DB-Schenker.

"Insbesondere in weniger entwickelten Regionen auf der Welt, in denen es keine Straßennamen gibt, hat das Navigationssystem Vorteile", sagt auch Jochen Thewes, der Geschäftsführer von DB Schenker. Und tatsächlich: Seit in dem afrikanischen Staat Dschibuti oder auch in der Mongolei Drei-Wort-Adressen als offizielle Adressierungsmethode eingeführt wurden, können Menschen zum ersten Mal Waren im Internet bestellen und bis an die eigene Haustüre geliefert bekommen.

Das freut nicht nur die Menschen, sondern auch die Konzerne, die bisher wortwörtlich nicht lokalisierbare Kundengruppen erschließen können. In Indien wurde getestet, ob die Zustellung von Post mit What3Words besser funktioniert als die bisher verwendete Methode. Das Ergebnis: ja - und zwar um 9,6 Prozent.

Vier Milliarden Menschen können den Standort ihrer Wohnung nicht angeben

Auch die Vereinten Nationen dürften What3Words gut finden. Laut deren Schätzungen haben vier Milliarden Menschen weltweit keine verlässliche Möglichkeit, den Standort ihrer Wohnung anzugeben. Oftmals sind allerdings bestimmte staatliche Leistungen an die Angabe des Wohnsitzes geknüpft: Bankkonten eröffnen, Geburten registrieren oder auf die Strom- und Wasserversorgung zugreifen. Würde Sheldricks System weiter etabliert, könnten diese Menschen außerhalb des Rasters sichtbar gemacht werden. Für die Verwendung des Systems zahlen große Konzerne deshalb Lizenzgebühren, sie bilden damit die wichtigste Einnahmequelle des Start-ups. Für Privatpersonen ist es dagegen immer kostenlos, die App zu verwenden.

Nichtregierungsorganisationen oder humanitäre Hilfsprogramme zahlen lediglich einen sehr geringen Betrag. Das philippinische Rote Kreuz hat die App bereits im Katastrophenschutz eingesetzt: Standorte von Flut- oder Erdbebenopfern können mithilfe der Drei-Wort-Adressen von Mitarbeitern am Boden an Kollegen in der Luft oder in den Zentralen weitergegeben werden.

Ein wichtiger Erfolg für Sheldricks Unternehmen ist zudem eine Kooperation mit Daimler-Benz. Großes Potenzial sehe man in der Autobranche und damit in Deutschland, denn "die Frustration mit der derzeitigen Adressierung ist hier besonders groß", heißt es von What3Words. 2017 wählte Daimler das Unternehmen aus mehreren Start-ups aus. Und seit Mai dieses Jahres kann jeder Fahrer - auch schon bereits ausgelieferter E- und S-Klassen aus dem Jahr 2016/17 - sein Auto auffordern: "Hey Mercedes, navigiere zu Fische Punkt Erde Punkt Abheben". Er wird dann zum Parkplatz in Hamburg am Fischmarkt von St. Pauli geführt. Die Kunden seien bisher sehr zufrieden mit diesem Angebot, sagt Daimler-Sprecher Georg Walthart. Deshalb wird nun auch eine ganze Reihe weiterer Mercedes-Modelle ihre Fahrer mit nur drei Worten ans Ziel bringen.

*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, es seien 57 Millionen 3x3 m-Quadrate. Das ist falsch, es sind 57 Billionen.

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Quelle:
SZ vom 05.12.2018
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