Süddeutsche Zeitung

Nahaufnahme:Die Vorzeige-Einwanderin

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Aigerim Kalysheva ist aus Kasachstan nach Berlin gezogen. Nach einem Programmierkurs konnte sie unter sechs Firmen wählen, die Interesse an ihr hatten.

Von Kathrin Werner

"Aigerim war mit Abstand die Schlaueste im Programmier-Bootcamp", sagt Stefan Wörner. "Wenn wir an einem Problem gearbeitet haben, hat sie am schnellsten eine Lösung gefunden - und die sah immer ganz einfach aus." Aigerim Kalysheva, 26, schlägt die Augen nieder und rutscht auf dem Stuhl hin und her. Es ist ihr etwas peinlich, wenn sie so etwas über sich hört. Aber Wörners hohe Meinung von ihr hatte eine Konsequenz, die ihr gefiel: Er wollte sie unbedingt für sein Start-up anheuern.

Deutschland ringt um Fachkräfte wie Aigerim Kalysheva: jung, engagiert, Programmiererin - und dann auch noch eine Frau. Für Menschen wie sie hat der Bundestag gerade das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, damit sie es leichter haben, in Deutschland arbeiten zu dürfen. Denn es gibt viele Hürden, selbst wenn sie bestens ausgebildet sind und deutsche Firmen bereits auf sie warten. Wörner hat eine Agentur angeheuert, die Kalysheva mit den Formalitäten in der Anfangszeit in Berlin helfen sollte. Nur ein Beispiel: Es ist schwer, eine Wohnung zu finden und sich beim Einwohnermeldeamt anzumelden, wenn man kein Bankkonto hat. Ein Bankkonto bekommt man aber kaum, wenn man nicht bereits angemeldet ist. "Man nennt es das Tal des Todes", sagt Wörner.

Wörner und Kalysheva haben sich in dem Bootcamp kennengelernt, einem neunwöchigen Intensivkurs, in dem Menschen aus aller Welt in Berlin Programmieren lernten. Kalysheva hatte vorher in ihrer Heimat Kasachstan Robotik und Mechatronik studiert und erste Arbeitserfahrung in der Industrie gesammelt. Es war eine ungewöhnliche Laufbahn für eine Frau aus ihrem sehr traditionellen Land, sagt sie. "Ich hatte Glück, dass meine Eltern mich unterstützt haben. Ich habe mich schon immer für Technik interessiert. Ich dachte immer, ich würde irgendwann ein fliegendes Auto erfinden." Sie schloss Schule und Uni mit Bravour ab, gewann Stipendien und die Mathe-Olympiade. In der Industrie wollte sie nicht ewig bleiben, sie wollte mehr lernen. "Ich liebe dieses Gefühl, wenn man etwas Neues kann, wenn man plötzlich etwas versteht", sagt sie. "Das ist eine Form von Glück." Und Berlin reizte sie. "Berlin ist doch das zweite Silicon Valley, das hat mir jeder gesagt", erzählt sie. Ihre Eltern haben ihr geholfen, die Gebühren für den Kurs zu bezahlen. Im Oktober vergangenen Jahres ging es los.

Es gefällt ihr in Berlin, auch wenn sie ihre Familie, Freunde und ihren Freund vermisst. Sie lernt jetzt Deutsch. "Es gibt so viele Start-ups hier", sagt sie. "Wir tauschen uns aus und lernen viel voneinander", sagt sie. Nach dem Bootcamp entschloss sie sich, zu bleiben, wenn sie den passenden Job finden würde - oder genauer gesagt: wenn der richtige Job sie finden würde. Beworben hat sie sich nirgends, aber von zehn Firmen, die sich am Ende des Bootcamps bei den Teilnehmern vorgestellt haben, hatten sechs Interesse an ihr. Sie entschied sich für Wörners Aeroscan. Die Firma, die im Coworking-Büro in Berlin sitzt, misst mit einem kleinen Gerät den Sauerstoffgehalt im Atem von Menschen und erstellt damit individuelle Gesundheitspläne. Unternehmen heuern Aeroscan an, ihre Mitarbeiter nutzen dann Aeroscans Produkte, darunter eine App. Auch Kalysheva joggt nun selbst mit einem auf sie zugeschnittenen Plan ihrer Firma.

Seit ihrem Umzug nach Berlin überrascht sie viel. In den ersten zwei Monaten habe sie zum Beispiel so viele Briefe bekommen wie in ihrem ganzen Leben zuvor. Richtige Briefe aus Papier, im Umschlag und per Post. In ihrem Land gehe das alles per App. "Wir in Kasachstan denken immer, dass Deutschland sehr modern ist", sagt sie. "Ich war ganz schön überrascht, wie wenig digitalisiert zum Beispiel deutsche Behörden sind."

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Quelle:
SZ vom 11.07.2019
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