Süddeutsche Zeitung

Mittwochsportrait:Der Heiler

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Der Nobelpreisträger Paul Ehrlich erfand das erste Antibiotikum, erforschte das Leben der Zellen und liebte Krimis. Er starb vor 100 Jahren. Seine Institutionen entwickeln weiter neue Therapien.

Von Helga Einecke, Frankfurt

Der alte Mann mit weißem Bart und dunkler Brille hat ein Bein lässig über das andere geschlagen. Er studiert ein auf sein Knie gelegtes Schriftstück. In der Hand hält er eine Zigarre. Um ihn herum stapeln sich übermannshoch die Papiere. Er blickt nicht auf und rührt sich überhaupt nicht, denn er ist aus Pappmaché.

Mit dieser nachgestellten Szene aus dem Arbeitszimmer des Nobelpreisträgers Paul Ehrlich führt das Historische Museum in Frankfurt den Besucher in die Ausstellung Arsen und Spitzenforschung ein. Ehrlich ist vor hundert Jahren gestorben, aber seine Forschungen finden bis heute große Beachtung. Kein Wunder, er war seiner Zeit in vielen Dingen voraus.

Von Anfang an hatten es ihm die Farben und das Färben angetan. So sehr, dass sie über ihn spotteten: "Ehrlich färbt am längsten". Stundenlang beugte er sich über das Mikroskop, beobachtete, wie und wo sich Gewebe von Haut, Muskel, Knorpel und Knochen veränderten. Er notierte alles akribisch und wiederholte seine Versuche so lange , bis sich Gesetzmäßigkeiten entwickelten. Erste Farbstoffe wie Anilinblau, Dahlia, Safranin machten die Zellen sichtbar. Heute nennt man das Screening. In der Biotechnologie, der heutigen Pharmaforschung, geht es im Kern noch immer darum, wie die Zellen in bestimmten Konstellationen funktionieren.

Ehrlich veröffentlichte schon als Medizinstudent Analysen zu Reaktionen und chemischen Eigenschaften von Zellen. Er laborierte nicht nur, er lebte auch in einer aufregenden Zeit. Die Welt wurde im 19. Jahrhundert heller, bunter und mobiler. Es gab die neuen Farbstoffe, Elektrizität, Maschinen, Autos, die Industrialisierung schob vieles an. Berlin wuchs zur Metropole mit dem bewundernden Spitznamen Elektropolis heran, und dort zog es auch Ehrlich hin.

Der Aufbruch in die Moderne änderte zunächst nichts an verheerenden Krankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie, Cholera und Syphilis, die als Strafe Gottes galten und unzählige Todesopfer forderten. Erst die drei Nobelpreisträger Robert Koch, Emil von Behring und Ehrlich entdeckten kleinste Organismen, Bakterien, und damit die Übeltäter. Dann jagten sie diese Mikroben. Ihre Forschungen revolutionierten das gesamte Denken in Medizin, Biologie, Chemie und Physik.

Mit beiden Kollegen arbeitete Ehrlich Hand in Hand, man ergänzte sich. Pferden wurden erst gezielt Diphtherie-Erreger verabreicht, dann wartete man bis die Tiere Antikörper entwickelten und gewann anschließend das Impfserum aus dem Blut der Pferde. Das Diphterie-Serum war ein riesiger Erfolg. Man pries Behring als den "Retter der Kinder" und zeichnete ihn 1901 mit dem ersten Medizinnobelpreis aus. Koch wurde 1905 geehrt, Ehrlich 1908. Die von Koch entwickelte Impfung gegen Tuberkulose wirkte anfangs nur in den wenigsten Fällen. Ehrlich half, das Mittel zu testen. Nur reine Impfstoffe und ihre richtige Dosis garantierten den Erfolg. Das war das Feld, in dem der Systematiker Ehrlich brillierte.

Er erforschte die Bestandteile des Serums ganz genau und lieferte die theoretischen Grundlagen für seine immunisierende Wirkung. Seine Seitenkettentheorie erklärt, wie der Körper Stoffe produziert, um Erreger und Gifte unschädlich zu machen. Die Fachwelt staunt noch heute über Ehrlichs weitsichtige Beschreibung, gerade erleben Antikörper und Immuntherapie ein großes Comeback in der Krebsforschung.

Doch der Mann wollte mehr. Er wollte Medikamente gegen Krankheiten chemisch herstellen. Letztlich begründete er die Chemotherapie, wie damals Behandlungen mit chemischen Substanzen generell hießen. Dem Wissenschaftler schwebte eine Art Zauberkugel vor, eine heilende Substanz, die sich im Organismus ihre Ziele selbst sucht und ohne Nebenwirkungen gesund macht. Die Magic Bullets - also die ins Englische übersetzten Zauberkugeln - gelten heute als Synonym für bahnbrechende Therapien. Werden sie kommerziell genutzt, können sie Pharmaunternehmen als sogenannte Blockbuster Milliarden einbringen.

Wenigstens eine Zauberkugel fand Ehrlich selbst. Er nannte sie Salvarsan, heilendes Arsen. Es war das erste synthetisch hergestellte Antibiotikum und half gegen Syphilis. Die Produktion in größeren Mengen übernahm das Unternehmen Hoechst, das sich im Westen von Frankfurt etablierte, Farben herstellte und auch ins Pharmageschäft einstieg.

Die Karriere des färbenden Forschers verlief keineswegs glatt. Die jüdische Herkunft Ehrlichs verhinderte zunächst, dass er einen Lehrstuhl an einer Universität angeboten bekam. Schon zu Kaisers Zeiten gab es Ressentiments gegen Juden, bei den begehrten Plätzen an Hochschulen wurden sie häufig übergangen. Ehrlichs Fähigkeit, die losen Fäden der Disziplinen Medizin, Chemie, Biologie und Histologie zu verknüpfen, war zwar allgemein nützlich, einer gezielten Karriere aber eher hinderlich. Er verschwand lieber ins Labor als den Arzt, Mediziner und Heiler herauszukehren. So verbrachte Ehrlich etliche Jahre im pulsierenden Berlin ohne feste Anstellung und berufliche Perspektive, aber dank eines reichen Schwiegervaters auch ohne ernste finanzielle Sorgen.

Dann aber wurde er Direktor des ersten staatlichen Instituts, das die Heilseren kontrollierte, zunächst in Berlin und später in Frankfurt. Der Umzug an den Main erwies sich als ein Glücksfall. Denn die Witwe des Bankiers Georg Speyer spendiert ihm ein eigenes Forschungsinstitut, das er neben dem Haus für Arzneiprüfung leitete. Außerdem gründeten Frankfurter Bürger eine Universität samt einem Lehrstuhl für ihn, eine späte Genugtuung für Ehrlich. Nicht zuletzt gab es einen regen Austausch mit der aufstrebenden chemischen Industrie in der Nachbarschaft.

Die Spurensuche ging bei Ehrlich über den Beruf hinaus. In seiner Freizeit las der Professor leidenschaftlich gern Krimis, besonders Sherlock Holmes hatte es ihm angetan. Er rauchte bis zu 25 Zigarren am Tag. Seine Dackel hörten stets auf den Namen Männe und folgten ihm ins Labor. Sie gehörten zur Familie, die standesgemäß im Frankfurter Westend wohnte.

Als Chef schaute er seinen Mitarbeitern gern auf die Finger, kontrollierte täglich deren Arbeit, gab schriftlich Anweisungen und hakte regelmäßig nach. "Viel arbeiten, wenig publizieren", war zwar sein Motto. Er brachte es gleichwohl auf 200 Veröffentlichungen. Außerdem etablierte er ein Tauschsystem mit Wissenschaftlern aus aller Welt, alles handschriftlich und per Brief, aber mit heutigem wissenschaftlichen Diskurs durchaus vergleichbar. Mit Vorträgen und Kongressen erweiterte er sein Netzwerk.

Rückschläge blieben dem Wissenschaftler nicht erspart. Die immense Gewinnspanne seines Salvarsans - 8 Mark Herstellungskosten und 16 000 Mark Verkaufserlös - geriet zum Skandal. Er rechtfertige die Diskrepanz mit "umfangreichen Vorarbeiten, fortlaufender Laboratoriumsarbeit und subtiler Fabrikation". Solche Argumenten hört man bis heute von Pharmaherstellern. Der Salvarsan-Streit gipfelte in einem Strafprozess wegen Verleumdung und zehrte auch an Ehrlichs Kräften. Er starb ein Jahr nach der Gründung der Frankfurter Universität und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Zu früh, er hatte noch viele Ideen und Pläne in der Schublade. Auch stand sein Name auf der Liste für einen zweiten Nobelpreis. Sein Grab findet man in Frankfurt, seinen Nachlass jedoch vor allem in den USA, denn seine Familie musste Deutschland zur Nazizeit verlassen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sein Name wiederentdeckt und seine Institutionen ausgebaut. Im Paul-Ehrlich-Institut (PEI) mit Sitz in Langen südlich von Frankfurt prüfen und kontrollieren 600 Mitarbeiter im staatlichen Auftrag Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel. Das Georg-Speyer-Haus steht im Umfeld der medizinischen Fakultät für eine bessere Chemotherapie, neue Methoden bei der Behandlung von Krebs und Aids sowie für die Gentherapie.

Als in diesem Jahr der erste Schnee fällt, treffen Ehrlichs Bewunderer noch einmal zusammen zu einem Festakt in der Frankfurter Paulskirche, einen Steinwurf vom Historischen Museum entfernt. Die Liste der Laudatoren ist lang. Gesundheitsminister Hermann Gröhe skizziert den Mann als den Vorläufer moderner Prüfung und Zulassung von Arzneimitteln sowie als Wegbereiter der personellen Medizin. Stefan Heil, Nobelpreisträger für Chemie 2014, bestätigt: "Richtig färben, das ist das Wichtigste". Biograf Axel Hüntelmann hebt hervor wie sehr sein Protagonist in die damalige Zeit passte. Erst die Farbstoffchemie und die Mikroskoptechnik ermöglichten die Erfolge, ebenso wie finanzielle Förderung und engagierte Mitarbeiter.

Elizabeth Brody, die amerikanische Urenkelin von Ehrlich, lockert die feierliche Stimmung auf. Sie habe Deutsch in der Schule gelernt und besonderen Gefallen an dem Wort "Sitzfleisch" gefunden, sagte sie, vermutlich auch deshalb, weil sich die Reden und Ehrungen ihres Vorfahren in die Länge ziehen. Tatsächlich bewies Ehrlich nicht nur viel Sitzfleisch in seinen Laboren, er kann auch im Museum sitzend noch bis Anfang April besucht werden. Den älteren Besuchern mag sein Gesicht bekannt vorkommen. Es war lange auf dem 200-Mark-Schein zu sehen.

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Quelle:
SZ vom 30.12.2015
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