Süddeutsche Zeitung

Foodwatch:"Ärmere Familien ernähren sich häufig schlechter"

Lesezeit: 3 min

Obst und Gemüse zu teuer, Fleisch zu billig: Foodwatch-Chef Martin Rücker kritisiert Preisverzerrungen in Lebensmittelhandel und sieht die Bundesregierung gefordert.

Von Silvia Liebrich

SZ: Herr Rücker, täuschen sich Verbraucher, wenn sie glauben, Lebensmittel sind teurer geworden?

Martin Rücker: Das Preisniveau in Deutschland ist niedrig. Aber ausgerechnet Lebensmittel, die für eine ausgewogene Ernährung wichtig sind, vor allem frisches Obst und Gemüse, sind vergleichsweise teuer - und die Preise stiegen in der Pandemie weiter. Lebensmittel mit schlechterer Nährwertqualität sind dagegen viel günstiger zu haben. Das führt dazu, dass sich gerade ärmere Familien mit Kindern häufig schlechter ernähren.

Was meinen Sie mit schlechteren Lebensmitteln?

Nahrungsmittel, die wenig Mineralien und Vitamine pro Kalorie mitbringen. Das gilt vor allem für Fertiggerichte, Limonaden, Süßigkeiten, aber auch für ein Zuviel an stark kohlehydrathaltigen Produkten wie Nudeln. Wichtige Inhaltsstoffe stecken vor allem in Obst und Gemüse. Gemessen an den Empfehlungen essen Erwachsene und vor allem Kinder viel zu wenig davon. Der Preis spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Staat muss deshalb dafür sorgen, dass jeder sich die gesündere Wahl leisten kann.

Mit dem Jahresbeginn gilt wieder der normale Mehrwertsteuersatz. Was hat der Corona-Nachlass für die Ernährung gebracht?

Nicht viel. Die Politik hat es bei allen milliardenschweren Hilfspaketen versäumt, Menschen in die Lage zu versetzen, sich ausgewogen ernähren zu können. Es fehlt der Ersatz für das ausgefallene Essen bei den Tafeln, in Kindergärten, in Schulen, in Sozialeinrichtungen, das viele Menschen kostenlos erhielten. Wir haben hier ein soziales Thema. Gerade bei Kleinkindern ist eine Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen fatal. Die werden zwar satt, wenn sie genügend Kalorien bekommen, aber wenn die nötigen Vitamine und Mineralien fehlen, leidet ihre Entwicklung unwiderruflich und die Lebenschancen sinken. Das ist ein echtes Armutsförderprogramm.

Die Regierung hat sich dafür eingesetzt, dass der Grillwurst-Nachschub gesichert ist. Die Preise sind zwar laut Statistik gestiegen, aber Fleisch ist immer noch eher billig.

Der Preis ist so niedrig, weil Fleisch künstlich billig gehalten wird. Damit meine ich die schlechten Bedingungen in der Tierhaltung, die Defizite beim Umwelt- und Klimaschutz, die schlechten Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie und das schlechte Auskommen für Bauern. Viele Menschen halten all das für nicht akzeptabel, doch genau damit wird die Billigproduktion subventioniert.

Weil Handel und Verbraucher Druck machen?

Die Marktmacht des Oligopols im Handel spielt eine Rolle, aber es geht hier nicht um niedrige Preise für Verbraucher in Deutschland. Es wäre auch kein Problem für den Handel, hierzulande höhere Preise durchzusetzen. Das eigentliche Problem ist der Weltmarkt. Wir müssen endlich erkennen, dass die Exportabhängigkeit deutscher Erzeuger, gerade bei Schweinefleisch, ins Dilemma führt.

Was genau ist das Problem?

Wir können uns nicht gleichzeitig mit Billigausfuhren als Exportweltmeister feiern, wenn die Kosten dafür andere tragen. Wir müssen endlich über die unbequeme Frage debattieren, ob wir bereit sind, unsere Rolle als Massenexporteur aufzugeben, um vernünftige Bedingungen in der Fleischproduktion zu erhalten - denn die führen zwangsläufig zu Preisen, die auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig sind.

Es sollte also nicht die Fleischproduktion gefördert werden, sondern der Anbau von Obst und Gemüse?

Fleisch sollte seinen wahren Preis kosten, und darüber hinaus muss eine gesunde Ernährung stärker gefördert werden. Für Lebensmittelhersteller bringen gesunde Lebensmittel oft die niedrigsten Gewinnmargen. Sie verdienen mehr mit Produkten, die einen hohen Fett-, Zucker oder Salzgehalt haben und vor allem aus billigen Zutaten bestehen.

Was muss passieren?

Von der Weltgesundheitsorganisation über das Robert-Koch-Institut bis zum wissenschaftlichen Beirat des Bundesagrarministeriums gibt es die klare Empfehlung, steuerpolitisch einzugreifen. Konkret: Ähnlich wie in Großbritannien sollten wir eine Unternehmenssteuer für zuckrige Limos einführen und im Gegenzug die Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse deutlich senken, im besten Fall auf null.

In dem Fall würde Deutschland gegen EU-Regeln verstoßen.

Ja, das ist derzeit noch so. Aber im ersten Halbjahr 2021 wird auf EU-Ebene eine neue Mehrwertsteuer-Richtlinie verhandelt, mit der die nötigen Voraussetzungen geschaffen werden können. Dann könnte jedes EU-Land selbst entscheiden, die Abgaben für Obst und Gemüse zu senken. Wir fordern, dass die Bundesregierung sich hier positioniert, damit die Mehrwertsteuer dafür bald abgeschafft wird.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5180535
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.