Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Wer wirklich schwach ist

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In diesem Jahr wurde viel über Gerechtigkeit diskutiert. Gut so, Politik und Öffentlichkeit sollten aber vor allem über Chancengerechtigkeit reden, denn die Weichen für ein besseres Leben werden bei den Kindern gestellt.

Von Marc Beise

Dieses Weihnachten wird es den Predigern leicht fallen, ihr Thema zu finden: Es könnte mit gutem Grund die Gerechtigkeit im Land sein. Viele Menschen haben in diesem Jahr über Gerechtigkeit geredet und geschrieben. Offensichtlich ist es ein starkes Gefühl im Land, dass es nicht mehr gerecht zugehe in der Gesellschaft, in der Welt sowieso nicht, aber auch nicht im wirtschaftlich starken Deutschland.

Es gibt freilich andere, die mit ebenfalls guten Gründen diese Sorgen relativieren. Das Problem der Debatte ist, dass niemand verbindlich definieren kann, was Gerechtigkeit ist, oder besser: Wann es gerecht und wann ungerecht zugeht. Seit Jahrhunderten schlagen sich die Denker damit herum, allgemein gültige Maßstäbe dafür zu entwickeln, was gerecht ist oder sozial - und besonders, wie man in diesen Zustand kommt. Je nach Zeitgeist waren die Ergebnisse sehr unterschiedlich. Erst recht schwierig wird es, wenn es um konkrete Sachverhalte geht, schon die Datenermittlung ist ein Hindernis, auch im Vergleich heute zu früher. Welchen Zeitraum nimmt man für die Frage, wie gerecht es in Deutschland (noch) zugehe? Wie bewertet man unterschiedliche Vermögenszustände? Wie schlagen Umweltbedingungen, eigene Leistung, Fremdzuwendungen, Transfers oder ideelle Werte zu Buche?

In Deutschland wurde heftig über Hartz IV diskutiert. Stigmatisiert das von der rot-grünen Regierung eingeführte Arbeitslosensystem diejenigen, die in der Leistungsgesellschaft scheitern, oder hilft es vielen sogar, damit sie möglichst schnell zurück in Arbeit finden? Hat Altersarmut bereits ein bedrohliches Niveau erreicht oder geht es den Rentnern mit wenigen Ausnahmen nicht eklatant besser als ihren Eltern und Großeltern in viel härteren Zeiten? Darüber kann man lange streiten.

Politik und Öffentlichkeit sollten sich besser auf einen Minimalkonsens verständigen und eine spezielle Form der Gerechtigkeit in den Blick nehmen: die Chancengerechtigkeit.

Dabei geht es um die Erkenntnis, dass die beste Gesellschaft diejenige ist, die es möglichst vielen Menschen ermöglicht, aus ihrem Leben etwas zu machen. Chancengerechtigkeit darf nicht nur theoretisch gelten, wie in der berühmten Formulierung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, wo das "Streben nach Glück" neben Leben und Freiheit als unveräußerliches Recht jedes Menschen postuliert wurde, sondern Chancengerechtigkeit muss ganz konkret und im Alltag einlösbar sein.

Gerecht ist eine Gesellschaft, die allen Menschen effektive Startmöglichkeiten gibt, und jenen, die benachteiligt sind, einen Extra-Schub. In diesem Sinne geht es in Deutschland ganz sicher nicht ausreichend gerecht zu, weil immer noch viel mehr Akademiker-Kinder ins Studium und auf Elite-Akademien kommen als Kinder aus sogenannten einfachen Verhältnissen. Weil Privatschulen boomen und auf den Business Schools die Kinder von Managern und Unternehmern den Ton angeben. Weil Kinder von Alleinerziehenden tendenziell schlechte Zukunftsperspektiven haben, von Kindern aus Hartz-IV-Haushalten ganz zu schweigen.

Chancengerechtigkeit also ist sehr wichtig, auf sie muss man sich konzentrieren. Sie ist wichtiger als alle anderen Formen der Gerechtigkeit, und sie braucht deshalb auch die höchste Aufmerksamkeit des Staates. Hierher müssen besonders viele soziale Transfers umgeleitet werden, hierfür müssen die Bemühungen in den Schulen konzentriert werden, hier müssen sich Spender und Stifter engagieren. Was immer am Ende als gerecht angesehen wird, die Weichen für ein besseres Leben werden bei den Kindern gestellt.

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Quelle:
SZ vom 24.12.2018
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