Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Fanatismus schlägt Vernunft

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Am Dienstag kommt für Großbritannien und Brexit-Enthusiasten die Stunde der Wahrheit. Es droht das Chaos.

Von Björn Finke

Die Weihnachtszeit ist die Zeit der Wunder, aber es wäre schon ein sehr großes Wunder nötig, damit das britische Parlament am Dienstag für das Austrittsabkommen stimmt. Zahlreiche Brexit-Enthusiasten bei den regierenden Konservativen wollen ihre Unterstützung verweigern für den Vertrag, auf den sich London und Brüssel in quälend langen Verhandlungen geeinigt haben. Premierministerin Theresa May wird bereits gedrängt, die historische Abstimmung zu verschieben. Doch die Zeit ist knapp: In weniger als vier Monaten verlassen die Briten die EU. Eine Verschiebung würde zudem nichts an den Streitpunkten ändern.

Dieses Gewürge hat schlimme Folgen für die Wirtschaft, für Arbeiter und Verbraucher: Die Unternehmer hoffen, dass am Dienstag endlich die Ungewissheit endet, was nach dem Austritt am 29. März geschieht. Die Ungewissheit, welche Regeln dann für Geschäfte mit dem wichtigsten Handelspartner, den EU-Staaten, gelten werden, belastet die Firmen seit zweieinhalb Jahren, seit dem Referendum. Aber die Brexit-Rebellen in Mays Partei verweigern den Managern die erlösende Sicherheit. Stattdessen blockieren diese Rechtgläubigen das Abkommen. Sie klagen, May habe zu viele Zugeständnisse gemacht, und verlangen Nachverhandlungen. Dabei nehmen sie in Kauf, dass Großbritannien ohne Vertrag aus der EU kracht - mit übelsten Konsequenzen.

Dieses Spiel mit dem Feuer ist verantwortungslos. Zumal klar ist, dass die EU keinen besseren Deal anbieten wird. Die Mitgliedstaaten haben sich mühsam auf fast 600 Seiten voll ausgefeilter juristischer Formulierungen geeinigt. Dieses Paket wird nicht wieder aufgeschnürt. Möglich sind höchstens kosmetische Änderungen, unverbindliche, schöne Worte.

Den Brexit-Fanatikern in der gespaltenen Konservativen Partei sind jedoch die Folgen ihres Handelns egal. Sie nutzen die Abstimmung für Schaufenster-Politik. Sie sind gegen den Vertrag, dies ist nicht ihr Brexit: Diese Botschaft wollen sie verbreiten, für Wähler, für die Parteibasis und für die Geschichtsbücher. Ideologie siegt über Pragmatismus, und das Land zahlt den Preis dafür. Dabei galten die Konservativen, die Tories, lange als Partei der wirtschaftlichen Vernunft im Königreich. Allerdings hat die über Jahre gehegte und gepflegte EU-Feindlichkeit großer Teile der Partei diese Vernunft vernebelt.

Die Brexit-Fans wollen sich von Mays Abkommen distanzieren, weil der Vertrag ihr Lügengebäude einstürzen lässt. Vor der Volksabstimmung behaupteten sie, der Austritt bringe Freiheit von Brüsseler Regeln und Kontrolle über EU-Einwanderung. Der reibungslose Handel mit dem Festland werde aber nicht leiden, die Wirtschaft werde von der Scheidung sogar profitieren. Diese hehren Versprechungen kollidierten schnell mit der Realität. Vollkommen erwartbar besteht die EU darauf, dass nur solche Länder die Vorteile des gemeinsamen Binnenmarktes und der Zollunion genießen, die sich auch an die Regeln halten: Regeln, auf die London nach dem Brexit keinen Einfluss mehr hat.

Premierministerin May zauderte lange, womöglich zu lange. Sie scheute eine ehrliche Debatte darüber, welchen wirtschaftlichen Preis der Brexit, der vage Traum von der Freiheit, wirklich wert ist. Schließlich entschied sie sich vernünftigerweise für eine enge Anbindung an Brüssel, um Zollkontrollen an der Grenze und Bürokratie für Exporteure zu verhindern.

Blockiert das Parlament den Vertrag, droht dagegen ein ungeregelter Austritt. Die vereinbarte Übergangsphase, in der sich für Firmen fast nichts ändern soll, fiele weg. Stattdessen würden nach dem 29. März Zölle und Grenzkontrollen eingeführt. Das Königreich und die verbleibenden EU-Staaten sind darauf nicht vorbereitet; an den Häfen käme es zu Chaos und Staus. Der stete Nachschub an Zulieferteilen für Fabriken, an Lebensmitteln für Supermärkte würde unterbrochen.

Die große Mehrheit der Parlamentarier ist gegen so einen Kamikaze-Brexit. Nach einer Niederlage im Unterhaus würde London daher versuchen, das Desaster abzuwenden: Die Regierung könnte den Vertrag mit kosmetischen Änderungen noch einmal zur Abstimmung stellen. Oder Brüssel um die Verschiebung des Austritts bitten. Die Brexit-Rechtgläubigen hätten mit ihrer Ablehnung dann nichts gewonnen. Doch leider gehören Pragmatismus und Vernunft nicht zu den Stärken von Fanatikern.

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Quelle:
SZ vom 10.12.2018
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