Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Das Ende der Zyklen

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Erst kam der Aufschwung, dann der Boom, dann der Abschwung. Das gehörte zum natürlichen Lauf der Dinge. Doch das ist vorbei, vor allem wegen der Notenbanken.

Von Harald Freiberger

Man kann schon durcheinanderkommen, wenn man sich die Entwicklung der Weltwirtschaft in den vergangenen zwölf Monaten ansieht. Vor einem Jahr herrschte in allen wichtigen Regionen eine Art Idealzustand aus deutlichem Wachstum und niedriger Inflation. "Goldlöckchen-Ökonomie" nennen Experten diesen Zustand, angelehnt an das Märchen, in dem ein Mädchen von drei Bechern mit Brei probiert: Der erste ist zu kalt, der zweite zu heiß, der dritte aber genau richtig temperiert. Genauso wie die ideale Wirtschaft: nicht abgekühlt, sodass eine Rezession drohen könnte; nicht überhitzt, sodass die Notenbanken mit Zinserhöhungen reagieren und den Boom abwürgen müssten. Kein Wunder, dass in dieser Welt die Gewinne der Unternehmen nach oben schossen und die Aktienkurse neue Rekorde erreichten.

Dann aber passierte etwas, mit dem viele Ökonomen nicht gerechnet hatten. Im Laufe des Jahres wurden die Alarmzeichen immer deutlicher, und von Herbst an tauchte auf einmal das schlimme R-Wort auf, besonders in der nach wie vor weltweit dominierenden Volkswirtschaft der USA. R steht für Rezession, also für einen Zustand, in dem die Wirtschaftsleistung nicht mehr wächst, sondern sinkt. Wohl selten zuvor wechselte der Blick auf die Ökonomie binnen so kurzer Zeit von Rosarot auf Tiefschwarz. Die Folge war, dass die Börsen im letzten Quartal 2018 den größten Absturz seit Langem erlebten.

Die Notenbanken sowohl in den USA als auch in Europa stellten sich auf die Sorgen ein und kündigten eine Abkehr von der zuvor verfolgten Politik an; diese sah vor, die Geldschleusen, die nach der Finanzkrise zehn Jahre lang weit geöffnet waren, wieder zu schließen. Die US-Notenbank Fed hatte die Zinsen schon mehrmals erhöht, die Europäische Zentralbank (EZB) hatte es zumindest für 2019 in Aussicht gestellt. Mit den zunehmenden Sorgen verschoben beide Notenbanken die Zinswende auf unabsehbare Zeit.

Und dann passierte wieder etwas Unerwartetes: Die dunklen Konjunkturwolken lösten sich wie von selbst auf, besonders in den USA. Die Unternehmensgewinne zogen dort im ersten Quartal 2019 an, die Wirtschaft boomt wieder. Die Folge war ein Boom an den Börsen. Genauso wie die Aktienkurse im Herbst eingebrochen waren, zogen sie Anfang des Jahres wieder an. Der US-Aktienindex S&P 500 hat die Verluste komplett wettgemacht und in den vergangenen Tagen seinen Rekord eingestellt. Der Deutsche Aktienindex steht zumindest kurz davor, die Werte vor dem Herbst zu erreichen.

Auf einmal nehmen die Experten wieder das Wort von der "Goldlöckchen-Ökonomie" in den Mund, jenem Idealzustand aus Wachstum und niedriger Inflation. Es ist wie Anfang 2018, so als wäre zwischendurch nichts passiert, als hätte es die Sorgen vor einem Absturz der Weltwirtschaft nie gegeben. Die Ökonomie ist einmal kurz von der Himmel in die Hölle gefahren und wieder zurück.

Die Notenbanken haben mit ihrer Nullzinspolitik die Gesetze der Ökonomie ausgehebelt

Was sagt ein solch erratischer Kurs über den Zustand der Welt aus? Er sagt, dass die Gewissheiten der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr gelten. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges lief die Weltwirtschaft verlässlich in Konjunkturzyklen von sieben bis elf Jahren ab: Erst kam der Aufschwung, dann der Boom, dann der Abschwung, dann die Rezession. Das war der natürliche Gang der Dinge, der aufgehoben ist, wenn die einzelnen Phasen - oder zumindest die Angst vor ihrem Eintreten - innerhalb eines Jahres ablaufen.

Verantwortlich für diese Entwicklung sind die Notenbanken, die mit ihrer Politik des billigen Geldes die alten Gesetze der Ökonomie ausgehebelt haben. Sie taten es, um nach der Finanzkrise den Absturz der Weltwirtschaft zu verhindern und in Europa das Auseinanderbrechen des Euro. Nun sind sie gefangen in ihrer Politik, mit unabsehbaren Folgen.

In dieser Gemengelage gibt es einen kleinen Lichtblick: Die US-Notenbank Fed hat gerade den Forderungen von Präsident Trump widerstanden, die Zinsen zu senken. Der twitterte jüngst, dass die US-Konjunktur dann "abgehen könnte wie eine Rakete". Die Fed betonte jedoch ihre Unabhängigkeit von der Politik. Es ist höchste Zeit für eine solche Ansage. Die Notenbanken haben sich viel zu lange abhängig gemacht von den Unzulänglichkeiten der Politik. Und die Weltwirtschaft damit in den unberechenbaren Zustand gebracht, in dem sie heute ist.

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Quelle:
SZ vom 03.05.2019
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