Süddeutsche Zeitung

Japan:Und es bewegt sich doch

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Einst war das Land der Inbegriff von Innovation, doch das ist lange vorbei. Viele Unternehmen sind erstarrt, wurden zerschlagen oder sind ganz verschwunden, Neues entsteht kaum. Doch es gibt Ausnahmen.

Von Christoph Neidhart, Otsuchi

Korrekturlesen ist in Japan komplexer als in Europa. Die Schriftzeichen bestehen aus bis zu 30 Strichen, viele sehen sich ähnlich. Japanisches Korrekturlesen kann deshalb noch schlechter in Billiglohnländer ausgegliedert werden als deutsches. Dabei sollte auch in Japan Korrekturlesen möglichst wenig kosten. Andererseits braucht es dafür bloß einen Arbeitsplatz, einen Computer, aber sonst keine Infrastruktur. Eine gute Tätigkeit für Orte wie Otsuchi. Das Fischerstädtchen in der Präfektur Iwate wurde vom Erdbeben 2011 total zerstört. Der Tsunami spülte den Ortskern weg, und dann brachen auch noch Feuer aus. Von 15 000 Einwohnern kamen 799 ums Leben, 607 werden weiter vermisst. Die Fluten vernichteten 620 der 650 Fischerboote und alle Fischfarm-Einrichtungen. Von den Überlebenden sind seither 20 Prozent abgewandert. Der Wiederaufbau stockt, es gibt zu wenig Stellen.

Kumiko Fukuda wurde in Otsuchi geboren, ihr Vater war Fischer. Die heute 55-Jährige war direkt nach ihrem Schulabschluss nach Tokio abgewandert, wo sie zur Zeit der Katastrophe eine kleine, auf Dateneingabe spezialisierte IT-Firma leitete. Sie kehrte nach Otsuchi zurück, um beim Wiederaufbau zu helfen. Sie wollte Arbeitsplätze schaffen. Die Fischerei war so schnell nicht zu reaktivieren, die Landwirtschaft auch nicht. Also verlegte sie einen Teil ihres Geschäfts in die Gegend, in der es zuvor keinerlei IT-Unternehmen gab. Mit Hilfe der Gemeinde gründete sie "Corporate Impact", eine Firma für den Daten-Input, fürs Korrekturlesen und den digitalen Druck.

Menschen, die anpacken und das Risiko nicht scheuen, sind rar geworden

Heute beschäftigt sie zwanzig Leute. Zu ihren Kunden gehören Buchverlage, aber auch die umliegenden Gemeindeverwaltungen. Inzwischen experimentiert sie nebenbei, passend zu Otsuchi, mit der Computerisierung der Lachszucht in Fischtanks. Ihre Rechner verfügen dazu über genügend Kapazität. Sie dosieren das Futter und kontrollieren Wasserqualität und -temperatur. Aus ihrem Büro kann Fukuda die Fischtanks per Video live überwachen. Nur das Reinigen müssen noch Menschen übernehmen. Wenn ihr System dereinst perfektioniert sei, sagt sie, werden Fischfarmer ihre Zucht mit dem Smartphone steuern können.

Doch Menschen wie Kumiko Fukuda, die anpacken und das Risiko nicht scheuen, sind rar geworden in Japan.

Vielmehr ist es so, dass die Industrie, vor allem die IT-Branche, Mühe hat, mit dem Wandel Schritt zu halten. Der südkoreanische Samsung-Konzern setzt längst mehr Geld um als die gesamte japanische Elektronikindustrie zusammen, die noch vor zwanzig Jahren den Weltmarkt dominiert hatte. Japans Firmen hätten keine Energie mehr, sagt ein britischer Consultant in Tokio: "Die Vorstellung, Japans Arbeitnehmer würden sich für ihre Firma aufopfern, weil sie ihnen eine lebenslange Stelle garantiert, ist nur noch Mythos. Viele wollen bloß keine Fehler machen, ja nicht auffallen, sie denken nur noch an sich selbst." Schon deshalb scheuten viele Firmen jegliches Risiko.

Viele Gründer geben wieder auf, sie finden niemanden, der sie finanziert

Eine Mitarbeiterin der weltweit bewunderten, ehemals staatlichen Eisenbahnen klagt, bei "JR East", die die Shikansen-Linien und nach Norden und die S-Bahnen von Tokio betreibt, würden Vorschläge für Verbesserungen des Kundendiensts - gerade auch für ausländische Touristen - fast immer abgeblockt. Ideen für eine innovativere Tarifstruktur ebenfalls. Dabei zeigten die Privatbahnen und die Metro, was man verbessern könnte.

In den letzten Jahren ist auch in Tokio eine Start-up-Szene entstanden, über die oft berichtet wird. Aber viele Gründer geben wieder auf. Sie haben wenig Chancen, ihre Projekte zu finanzieren. Japans Banken sitzen auf Milliarden, gewähren ihnen aber keine Kredite. Das Risiko sie zu groß. Ihre Familien, vor allem Eltern und Schwiegermütter, lehnen Risiken auch ab. Lieber sollten vor allem ihre Söhne bei Traditionsfirmen wie Toyota oder sogar beim Beinahe-Bankrotteur Toshiba Unterschlupf finden. Von großen Namen verspricht man sich in Japan Job-Sicherheit. Trotz Vollbeschäftigung gilt die scheinbar lebenslang garantierte Stelle noch immer als oberstes Gut. Dafür verzichten Japaner auf höhere Löhne und spannende Arbeit. Die Insel Iki liegt 1500 Kilometer südwestlich von Otsuchi in der Meerenge von Tsushima - gleichsam am anderen Ende Japans. Auch aus Iki wandern die Jungen seit Jahrzehnten ab. Die Insel ist bekannt für ihren Reis, für Thunfisch, Seeigel, Wassermelonen und Mikan, die japanische Mandarine, Sake und Shochu, einen Schnaps, aber auch für Tee, Honig und Kamelienöl. Und mit ihrer langen Geschichte, den Shinto-Schreinen, viel Wald, Klippen und malerischen Stränden ist sie eine heile Welt, ein kleines Paradies. Doch Ikishima (Shima bedeutet Insel) leidet unter den typischen Schwierigkeiten der japanischen Provinz. Bauern und Fischer haben Mühe, ihre Produkte abzusetzen - wie ihre Berufsgenossen im Norden, wo der Fischerei-Unternehmer Ryota Suzuki jüngst klagte, die lokale Bevölkerung gehe zum Sushi-Discounter, der Lachs aus Norwegen oder Chile sowie Thunfisch vom Atlantik beziehe, aber keine lokalen Produkte anbiete.

Ähnlich wie Kumiko Fukuda, die simple, aber für Otsuchi ungewohnte Ideen aus Tokio mitbrachte, gelangte mit Shunsuku Mori ein innovativer Unternehmer aus der Hauptstadt nach Iki. Der 35-Jährige hatte zuvor im Tokioter Trendviertel Shibuya den "Fightclub 428" mitgegründet, ein Fitness-Studio mit Boxclub und Bar. Und dann "Moris Bibliotheksladen", eine Leihbücherei, die auch Veranstaltungen durchführt und Räume mit Bücherwänden für Tagungen vermietet. Vor zwei Jahren aber zog der Jungunternehmer mit seiner Familie auf die entlegene, überalterte Insel Iki, deren Bevölkerung sich seit 1960 halbiert hat. Ein Drittel der 27 000 Bewohner sind Rentner. Doch Iki hat einen rührigen Bürgermeister, Hirokazu Shirakawa, der den Verfall stoppen will. Im Nebenamt Leiter des "nationalen Rats zur Förderung abgelegener Inseln", will er Iki zum Musterbeispiel einer Insel machen, die der Überalterung trotzt. Dafür gibt es sogar militärische Gründe: Un- oder spärlich bewohnte Inseln sind schwierig zu verteidigen, schon deshalb erhalten Iki und 70 weitere Inseln Zuschüsse aus Tokio.

Initiative wird heute nicht belohnt, sondern erstickt

Shirakawa überzeugte den Technologie-Konzern Fuji-Xerox, auf der Insel ein kleines Zentrum für Telework einzurichten, das auch Start-ups und Sommerkursen Platz bietet. Vor allem aber hat der heute 69-Jährige "Iki-Biz" geschaffen, ein kleines Büro zur Förderung der lokalen Wirtschaft. "Aufhalten kann man die Abwanderung der Jungen nicht. Aber wir müssen Stellen schaffen und die Wirtschaft stützen, um unsere abgelegene Insel lebendig zu erhalten", sagt er. Im vergangenen Jahr konnte Iki sogar einen kleinen Migrationsgewinn verzeichnen.

"Iki-Biz" konnte nur Erfolg haben, das war Shirakawa klar, wenn er dafür die richtigen Leute fand. Per Anzeige suchte er eine Unternehmerpersönlichkeit, die dem traditionellem Gewerbe mit Ideen unter die Arme greifen kann. 391 Bewerbungen gingen ein, Shunsuku Mori erhielt den Zuschlag. Die Qualität der Produkte, die Ikis 1500 kleine Unternehmen anbieten, sei sehr gut, stellte Mori bald fest. "Aber der Markt auf der Insel ist geschrumpft und die meisten Produzenten sind über 60. Als ich hier ankam, wusste kaum jemand, wie man übers Internet verkauft. Das Marketing und das Design waren keineswegs up-to-date." Mori bildete ein Team, holte einen Webdesigner. "Jeder Produzent hat spezifische Qualitäten, man muss ihm nur helfen, sie herauszustreichen." Manchen hat "Iki-Biz" eine Homepage gebaut. Oft gehe es darum, die Qualität des etwas Altmodischen, Überlieferten und Handgemachten zu zeigen und dafür einen Markt zu finden. Inzwischen hat Mori mit Iki-Fitlab am Hafen auch einen Fitnessclub mitgegründet. Und dort die fast zehn Kilo wieder abtrainiert, die er seit seinem Umzug auf die Insel zugenommen hatte.

Leute wie Fukuda in Otsuchi und Mori in Iki tun nur, was die Unternehmergeneration ihrer Großeltern tat - und sogar in bescheidenerem Maß. Sie finden Nischen, haben Geschäftsideen und ergreifen Initiativen. Provinz-Bürgermeister unterstützen sie dabei. Angesichts der Krise der japanischen Provinz müsste das normal sein. Otsuchi und Iki sind denn auch nicht die einzigen Gemeinden, die es versuchen. Aber Initiative ist in Japan heute selten; sie wird kaum gefördert, in den Zentren und in großen Konzernen am wenigsten.

Die Angst vor Veränderungen, die die japanische Politik beherrscht, hat in den vergangenen Jahrzehnten auch auf die Wirtschaft übergegriffen. Die alten Patriarchen, die Ikonen wie Sony aufbauten und mit sicherer Hand führten, sind gestorben. Ihre Nachfolger haben nie gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Sie wollen nichts falsch machen und beschränken sich aufs Verwalten. Daran sind berühmte Marken zerbrochen, Sanyo etwa. Sharp, jahrelang de facto bankrott, musste sich als Tochterfirma an Honhai aus Taiwan verdingen. Der 144 Jahre alte Toshiba-Konzern stieß seine Herzstücke ab, um das Überleben des Namens zu sichern. Aber in Tokio will man das nicht wahrhaben, Politik und Wirtschaft setzen weiterhin auf das Etablierte. Als Erfolgsstories weisen Japans Politiker auf Unternehmen wie den Klamotten-Discounter Uniqlo hin, den Mobilfunk-Unternehmer Softbank oder den Internet-Händler Rakuten.

Dabei vergessen sie geflissentlich, dass diese Unternehmen von Außenseitern aufgebaut wurden. Sie haben nicht dank der Politik Erfolg, sondern trotz ihr. Initiative wird im heutigen Japan nicht belohnt, sondern von der Hierarchie erstickt. Ein neuer Wind kann nur von den Rändern kommen, wenngleich vorerst bloß als Brise: aus Otsuchi zum Beispiel, oder von der Insel Iki.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2019
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