Süddeutsche Zeitung

Haiti:Die Katastrophe danach

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Vor zehn Jahren erschütterte ein schweres Erdbeben Haiti. Die Spendenbereitschaft war groß, Milliarden flossen für die Opfer. Heute gilt die Karibikinsel als Beispiel dafür, dass Hilfe auch schaden kann.

Von Kathrin Schwarze-Reiter

Die Innenstadt von Port-au-Prince ist alles andere als ein sicherer Ort. Immer wieder kommt es, berichten Augenzeugen, zu Schießereien zwischen Banden und zu gewalttätigen Protesten gegen die Regierung. Ausländer werden überfallen und ausgeraubt. Das Auswärtige Amt rät deshalb dringend von Reisen nach Haiti ab. Selbst Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die schon viele Krisenherde gesehen haben, sind entsetzt. "Vieles ist immer noch zerstört. Es wirkt, als wäre das Erdbeben gerade erst passiert oder als wäre ein verheerender Tsunami durch die Altstadt gefegt", sagt Leona Keyl. Sie ist freie Beraterin für internationale Zusammenarbeit und arbeitete vor einigen Monaten auf der Karibikinsel, um die Erfolge eines Hilfsprojekts zu bewerten. "Überall türmen sich riesige, teilweise brennende Müllberge. Es stinkt bestialisch", sagt Keyl. Viele Stadtteile haben kein fließendes Wasser und keinen Strom. Auf dem Land sieht es oft nicht besser aus. Und das, obwohl das große Erdbeben nun zehn Jahre her ist, obwohl es damals eine große Welle der Hilfsbereitschaft gab, obwohl Milliarden für die Karibikinsel flossen. Wie kann internationale Hilfe so verpuffen?

Es ist 16.53 Uhr, als am 12. Januar 2010 in Haiti die Erde bebt, mit einer Stärke von 7,0 auf der Richter-Skala. Es ist das schwerste Beben in der Geschichte Amerikas. In manchen Städten stürzten 90 Prozent der Gebäude ein, nach Schätzungen der haitianischen Regierung starben 316 000 Menschen. Noch einmal so viele wurden verletzt, zwei Millionen Menschen obdachlos. Der wirtschaftliche Schaden belief sich auf 5,4 Milliarden Euro.

"Jeder half unkoordiniert an der Regierung vorbei, jeder tut, was er will."

In kürzester Zeit lief damals eine gigantische Hilfsaktion an, überwacht vom Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Un ocha). Zehn Millionen Dollar stellte die Staatengemeinschaft für Nothilfe und Wiederaufbau zur Verfügung, weitere drei Milliarden Dollar kamen von nicht-staatlichen Organisationen. Ein Großteil des Geldes stammte von privaten Spendern. Die Bereitschaft zu helfen war groß. Allein in Deutschland gingen in den ersten Tagen laut Aktionsbündnis Katastrophenhilfe mehr als eine Million Euro Spenden ein. Mehr als 10 000 Organisationen schickten Helfer auf die Insel, um Nothilfe zu leisten.

Viel Geld, viel Hilfe, viel Arbeit - dennoch geht es den Haitianern heute schlechter als vor dem Beben. "Haiti ist ein Paradebeispiel dafür, was alles schief gehen kann, wenn sich ganz viele Akteure auf ein Land stürzen", sagt Axel Dreher, Professor für Entwicklungsökonomie an der Universität Heidelberg. Hinzu komme fehlende Führungskraft der dortigen Regierung. "Jeder half unkoordiniert an der Regierung vorbei, jeder tut, was er will", sagt Dreher.

Haiti gilt inzwischen als Mahnmal, wie Hilfe aus dem Ausland sogar schaden kann. "Im Grunde war alles da: Geld, technische Mittel, Personal, der politische Wille, Dringlichkeit", sagt Wilfried Vyslozil, Vorstandvorsitzender der SOS-Kinderdörfer weltweit. "Und trotzdem sind viele Hilfsprojekte grandios gescheitert." Die Frage nach den Ursachen beschäftigt Regierungen und Hilfsorganisationen seit Jahren. Gerade jetzt, zehn Jahre nach dem Beben ziehen viele Bilanz. Man will aus dem Desaster Haiti lernen.

Dass die erste Phase chaotisch ablief, ist bei dem enormen Ausmaß der Zerstörung normal, das passiert auch in anderen Katastrophengebieten häufig. Ohne die schnelle Nothilfe der Hilfsorganisationen wären jedoch noch viel mehr Menschen gestorben. Die eigentlichen Fehler wurden Fachleuten zufolge danach begangen, als die schlimmste Not bereits gelindert war. "Vor allem die vielen kleinen Organisationen agierten völlig unkoordiniert und oftmals völlig am Bedarf vorbei. Manche verteilten Bibeln mit einem Zehn-Dollar-Schein darin, andere bauten Hühnerställe", erinnert sich der SOS-Vorsitzende Vyslozil, der öfter in Haiti war. "Aus der ersten Nothilfe wurde kein nachhaltiger Aufbau - anstatt mit den Betroffenen Hilfe zu planen, wurden Hilfsprojekte ohne die Haitianer gemacht und gingen an Land und Leuten vorbei." Viele Hilfskräfte wurden eingeflogen, die die haitianische Gesellschaft und Kultur nicht kannten und kein Wort der Landessprache Kreyòl sprachen. "Haiti ist nichts für Amateure", kritisierte der Brasilianer Ricardo Seitenfus, damals Repräsentant der Organisation Amerikanischer Staaten in Haiti, schon 2016. Er hatte den Verdacht, dass Haiti zum Ausbildungslager für meist sehr junge Mitarbeiter von Hilfsorganisationen genutzt werde.

Viele Projekte wurden begonnen und auch verwirklicht. Es wurden Schulen gebaut, Zisternen gegraben, Schutt beseitigt, Straßen in Stand gesetzt, Häuser errichtet. Doch ein Großteil der Projekte wurde nie beendet oder verfiel nach dem Abzug vieler Organisationen. Eine Menge Geld wurde gar nicht erst ausgegeben oder ist verschwunden. So wurden von zehn Milliarden Dollar an zugesagter Hilfe dem Centre for Economic and Policy Research (CEPR) zufolge bis 2019 lediglich 7,5 Milliarden verteilt. "Obwohl man mit dieser Summe die gesamte Insel wiederaufbauen hätte können, wurde es nicht getan", sagt der frühere Senator des US-Bundesstaates New York, Rubén Díaz. "Wir müssen herausfinden, wohin die Milliarden flossen und warum das Geld den Menschen in Haiti nicht geholfen hat." Diverse Finanzberichte weisen Lücken aus. Zwei Millionen Dollar wurden etwa für den Wiederaufbau des haitianischen Parlaments verbucht. Bis heute steht das symbolträchtige Gebäude mit der weißen Kuppel nicht.

Manche, die dass Unheil gut überstanden hatten, wurden danach ins Elend gestürzt

Haiti hat die Größe des Bundeslandes Brandenburg, das Beben traf nur einen Teil des Landes mit voller Wucht. Es ist eine Fläche, auf der man Hilfsaktionen systematisch und nachhaltig planen könnte. Die Helfer hatten aber zum einen mit schwierigen politischen Strukturen zu kämpfen. Eine oft korrupte Machtelite steht in Haiti einer breiten, armen Bevölkerungsmehrheit gegenüber. An ihren Bedürfnissen ging die Hilfe oft vorbei. Nur 2,3 Prozent gingen laut dem Institut CEPR an die haitianische Regierung, haitianische Organisationen und Unternehmen. Haitianer wurden selten einbezogen. Direkte Finanzhilfen an Erdbebenopfer gab es kaum, obwohl solche Programme nach Studien der OECD bereits in Afghanistan und Südafrika erfolgreich erprobt worden waren . Größter Empfänger von Nothilfe war die US-amerikanische Beratungsfirma Chemonics mit 191,25 Millionen Dollar.

20 Prozent gingen an das US-Militär für den Einsatz nach dem Beben. Hinzu kam die Blindheit gegenüber den wirtschaftlichen Folgen ausländischer Hilfe. Manche, die die Katastrophe gut überstanden hatten, wurden so erst ins Elend gestürzt. Überall im Land wurde billiger oder kostenloser Reis aus den USA ausgegeben. Der Markt brach zusammen, die Lebensgrundlage vieler Haitianer wurde zerstört. Zwei Drittel leben von der Landwirtschaft. Schon wenige Tage nach dem Beben wäre es möglich gewesen, wenigstens einen Teil der Lebensmittel bei lokalen Bauern einzukaufen, sagt Ricardo Seitenfus. "Doch angesichts des massiven Imports von Nahrungsmitteln zur Versorgung der Obdachlosen hat sich die Situation für die haitianische Landwirtschaft verschlechtert." Die Bauern blieben auf der Ernte sitzen und hatten keine Einnahmen für die nächste Aussaat. 3,7 Millionen Haitianer sind laut Welthungerhilfe heute noch auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Für viele Obdachlose baute man Tausende sogenannte T-Shelter, Einfachwohnungen aus Latten und Lastwagenplanen. Auch hier dasselbe Muster: Die Kosten für heimische Häuser wären etwa die gleichen gewesen, da das Material für die T-Shelter vollständig importiert werden musste. Noch heute wohnen mehr als 30 000 Haitianer in Notunterkünften. Die meisten Zelte wurden in der Siedlung "Corail" errichtet, einem Projekt des US-Schauspielers Sean Penn. Es liegt 18 Kilometer außerhalb von Port-au-Prince, ohne Busverbindung. Bewohner, die noch Arbeit hatten, verloren sie. Inzwischen zählt Corail zu den gefährlichsten Slums der Karibikinsel.

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SZ vom 10.01.2020
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