Süddeutsche Zeitung

Gravez:Navi für Friedhöfe

Lesezeit: 4 min

Zwei israelische Jungunternehmer haben eine App entwickelt, die hilft, Grabstätten zu finden. Die Aufgabe ist kompliziert.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Das Gräberfeld ist unübersichtlich: Rund 120 000 Menschen sind hier auf dem Yarkon-Friedhof am Rande von Tel Aviv begraben. Einen Plan oder ein Namensregister gibt es nicht. Wie soll man hier einen Angehörigen finden? "Kein Problem", meint Guy Liany und tippt den Namen Moshe Cohen in die Gravez-App. Dann erscheint eine Karte des Friedhofs und eine Stimme gibt Anweisungen: Zuerst auf dem Hauptweg entlang, dann zwei Mal links, und schließlich steht man vor dem Grab, das sich in der zweiten Reihe hinter einem schmalen Pfad verbirgt. Zum Vergleich erscheint ein Bild des Grabsteins auf dem Handy-Bildschirm.

Die App zeigt auch an, wo sich die nächste Wasserstelle befindet und welche Wege nicht mit dem Auto oder dem Rollstuhl befahrbar sind. "Man kann auswählen, ob man zu Fuß oder, wenn möglich, mit einem Fahrzeug beim Grab ankommen will. Es wird auch der nächstgelegene Parkplatz angezeigt, dann kann man die restliche Strecke gehen", erläutert Liany. Gemeinsam mit Israel Gold hat Liany 2017 die Firma Corido gegründet, die die Gräber-App entwickelt hat. Zwölf Mitarbeiter sind in dem in Haifa ansässigen Start-up beschäftigt. Die Hälfte davon sind Entwickler, der Rest "Feldarbeiter", die auf den Friedhöfen und im Web Informationen sammeln.

Die beiden Gründer, 37 und 39 Jahre alt, haben zuvor im Bereich Informationssysteme gearbeitet. Gold brachte zusätzlich berufliche Erfahrungen in einem Bestattungsunternehmen mit. "Das war hilfreich, denn es war etwas schwierig. Innovation ist nicht gerade die Stärke von Bestattungsunternehmen", meint der orthodoxe Jude lachend.

Die Vereinigung der Bestattungsunternehmer, die in Israel auch für die Friedhofsverwaltung zuständig sind, zeigte sich aufgeschlossen für den Plan, ein Navigationssystem für Grabstätten zu erarbeiten. Zuerst wurde mit der Datenerfassung auf einem Friedhof begonnen. Inzwischen arbeiten zwölf der 17 größten Bestattungsunternehmen Israels mit den Betreibern der Gräber-App zusammen. 1,3 Millionen Gräber - vierzig Prozent aller Grabstätten in Israel - sind bereits in einer Datenbank erfasst, auf 30 Friedhöfen kann dieses spezielle Navigationssystem benutzt werden.

Entschließt sich ein Bestattungsunternehmen oder ein ganzer Friedhof zur Zusammenarbeit, werden bis zu sechs Mitarbeiter von Corido losgeschickt. Sie fotografieren jeden einzelnen Grabstein, bis zu 3000 schafft eine Person pro Tag. Zusätzlich werden geografische Punkte oder wichtige Details wie Wasserstellen erfasst. Dazu kommen noch Aufnahmen von Drohnen und GPS-Daten. All diese Informationen werden verknüpft. "Außerdem kriegen wir Daten der Verstorbenen von den Bestattungsunternehmen. Wir geben diese Informationen in unsere Datenbank ein und ergänzen sie mit den von uns gesammelten Angaben. Dann ist jeder Grabstein auf einer Karte zu finden: mit einem Foto und genauer GPS-Position", erklärt Liany.

Anfragen aus dem Ausland

Im vergangenen halben Jahr haben rund 35 000 Nutzer die App auf ihrem Handy heruntergeladen. Der Name Gravez, so erklären es die Firmengründer, sei eine Mischung: einerseits aus dem englischen Wort für Grab, Grave, und andererseits aus dem Namen Waze, ein in Israel entwickeltes Navigationssystem für Smartphones, bei dem Benutzer aktuelle Verkehrsinformationen übermitteln. Für Privatpersonen ist die Nutzung kostenlos. Die Bestattungsunternehmen müssen eine Gebühr von rund 1,50 Dollar pro Grab zahlen sowie eine monatliche Wartungsgebühr, die von der Anzahl der Grabstätten und der Größe des Friedhofs abhängt. "Dafür bekommen sie ein Administrationssystem, mit dem sie den Friedhof auf eine neue Art managen können. Wir verbinden ihre Datenbank mit den Lokalisierungsdaten von GPS. Das System ist so immer auf dem letzten Stand", erklärt Liany. Die Friedhofsverwaltung könne auch selbst Informationen eingeben - etwa wenn ein Weg auf dem Gelände durch Bauarbeiten gesperrt ist.

Auf Knopfdruck erscheint zudem auf einem Plan, wo noch Grabstätten frei sind. "Man kann sehen, wo Angehörige begraben sind, und dann schauen, wo man noch ein Grab in der Nähe kaufen kann. Die Bestattungsunternehmen können so die besten Stellen für freie Plätze zeigen", erläutert Liany.

Schwierig ist die Arbeit dagegen bei älteren Friedhöfen wie jenem auf dem Ölberg in Jerusalem. "Das ist einer der schwierigsten. Denn es gibt dort 14 verschiedene Bestattungsunternehmen, und wir müssen die Daten von jedem einzelnen bekommen", sagt Gold. "Die Grabsteine stehen dicht beisammen und fast übereinander. Dann gibt es auch Grabsteine, die gar niemandem mehr gehören. Es ist auch eine Erhaltungsarbeit damit verbunden."

Viele wüssten auch nicht genau, auf welchem der vielen Friedhöfe in Jerusalem ihre Angehörigen bestattet seien. "Sie müssten dann bei jedem der 14 Bestattungsunternehmen nachfragen. Jetzt kann man mit einer Abfrage in unserer App im gesamten Datensatz diese Informationen suchen und finden", ergänzt Liany.

Das Ziel der beiden Unternehmer ist, möglichst noch im nächsten Jahr alle Grabstätten in Israel zu erfassen. Außerdem gibt es bereits Anfragen aus dem Ausland: aus den Niederlanden und Frankreich. In Marseille wird man demnächst damit beginnen, Gräber zu erfassen. "Weil es dort mehrere jüdische Friedhöfe gibt, ist diese Arbeit besonders wichtig. Denn wenn etwa ein Enkel das Grab seines Großvaters nach vielen Jahren sucht und nicht weiß, auf welchem Friedhof er bestattet ist, dann kriegt er diese Informationen durch unsere App", sagt Liany. Auch der alte Friedhof mitten in Prag mit den dicht an dicht stehenden Grabsteinen wäre eine "reizvolle Aufgabe".

Gold schildert, dass sich Angehörige bei ihnen bedankt hätten, weil sie nun zumindest wüssten, wie Gräber von Angehörigen aussehen, auch wenn sie diese nicht besuchen könnten. "Manche öffnen die App nur, um sich das Grab anzuschauen und so ihren Verstorbenen nahe zu sein."

Zu Jahresbeginn wird die App in Israel weiterentwickelt. Dann werden über die Navigation hinaus noch weitere Dienstleistungen angeboten. "Serviceleistungen für das Grab", nennen die beiden Gründer den nächsten Schritt. So könne man jemanden damit beauftragen, einmalig oder regelmäßig Blumen aufs Grab zu stellen oder Reinigungsarbeiten und Reparaturen vorzunehmen. Sie sind dabei, einen Onlineshop in ihr System zu integrieren, und sprechen dafür lokale Unternehmen wie Blumenhändler an, von denen sie dann eine Vermittlungsgebühr kassieren wollen.

Die beiden Israelis wollen noch einen Schritt weitergehen: "Wir wollen eine Verbindung zwischen dem realen Grabstein und dem virtuellen Raum herstellen", erläutert Gold. So könne ein Kondolenzbuch im Web entstehen, das jedem Toten über dessen Grabstein zugeordnet werden könne. Die Einträge könnten für Familienmitglieder und Freunde oder für die gesamte Öffentlichkeit sichtbar werden. "So können Lebensgeschichten für die nächsten Generationen erhalten bleiben", meint Liany. Seine Vision: Mit der Gräber-App soll man dann jeder Lebensgeschichte auf jedem jüdischen Friedhof nachspüren können. "So bleibt Geschichte lebendig."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4726875
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.12.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.