Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Gesundheit geht nicht immer vor

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Aus Sorge um Wirtschaft und Versorgung fordert Emmanuel Macron bestimmte Beschäftigte dazu auf, zur Arbeit zu gehen - trotz Coronavirus. Weil die Arbeitnehmer sich wehren, setzt er neue Anreize.

Von Leo Klimm, Paris

"Wir sind im Krieg", im Krieg gegen das Coronavirus, hatte Emmanuel Macron seinen Landsleuten Anfang der Woche eingeschärft. Und gegen all jene, die sich nicht an seine strengen Ausgangsregeln halten, lässt er hohe Bußgelder verhängen. Jetzt, zu Ende der Woche, schlägt Frankreichs Präsident andere Töne an: "Wir müssen weiterhin produzieren und das Land am Laufen halten", sagt er.

Macron treibt die Angst vor dem Kollaps der Wirtschaft. Und die Sorge um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen Waren des täglichen Bedarfs. Seine Arbeitsministerin Muriel Pénicaud spricht das Problem noch deutlicher an als er: "Die Arbeitnehmer haben ein Recht auf Schutz", sagt sie. "Aber die Bürger haben ein Recht auf nötige Waren und Dienstleistungen." Und geradezu "empört" zeigt sich die Ministerin darüber, dass der französische Handwerksverband wegen der Coronavirus-Pandemie seine Mitglieder aufgefordert hat, die Arbeit einzustellen.

Was denn nun? Ist das Virus etwa doch nicht so gefährlich? Oder offenbaren Macron und seine Regierung mit ihrer widersprüchlichen Kommunikation ihr eigenes Dilemma: Leben retten - oder Wirtschaft retten? Denn das Rettungspaket aus 45 Milliarden Euro Soforthilfe für Firmen und 300 Milliarden Euro an Staatsgarantien, das sie diese WocGESUND

he geschnürt haben, wird die einsetzende Rezession höchstens mildern können.

Macron selbst kann in seinen Aussagen keinen Widerspruch erkennen. In seiner viel beachteten Kriegsrede von vergangenem Montag habe er bewusst nicht von einer radikalen Ausgangssperre gesprochen, sagt er. "Wir müssen einen Mittelweg finden." Es sei möglich, dass viele Leute zu Hause blieben, ohne dass Firmen den Betrieb einstellen. Aber auch Jobs, die sich nicht aus dem Homeoffice erledigen lassen, also solche, die der Hände Arbeit erfordern, sollten unbedingt verrichtet werden - "unter Beachtung der Schutzvorschriften".

Damit spitzt sich die Corona-Krise in Frankreich in kürzester Zeit zur sozialen Frage zu: Arbeitnehmer, deren Anwesenheit am Arbeitsort unverzichtbar ist, sollen ein höheres Ansteckungsrisiko in Kauf nehmen als jene, die zu Hause am Computer sitzen, beklagen die beiden großen Gewerkschaften CFDT und CGT. In manchen Branchen kommt es bereits zu Konflikten mit den Arbeitgebern. Nicht zuletzt im Handel und im Transportgewerbe, die von der Regierung als "unentbehrliche Branchen" zur Sicherung der Grundversorgung des Landes definiert werden. "Es gibt derzeit keine Lieferprobleme", beteuert Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire. "Aber in manchen Supermärkten gibt es Spannungen mit Blick auf die Mitarbeiter." In der Tat: Vielerorts bleiben die Beschäftigten aus Angst vor dem Coronavirus einfach weg.

Sie nutzen eine im französischen Arbeitsrecht verbriefte Möglichkeit, dem Arbeitsplatz fernzubleiben, wenn das eine Gefahr für ihre Gesundheit bedeutet. Ausgerechnet beim Onlinehändler Amazon - der wegen der Krise viel mehr Bestellungen verzeichnet als üblich - sind diese Woche in mehreren Logistikzentren in Frankreich hunderte Mitarbeiter in den Streik getreten. Sie fordern, dass ihnen das gesetzliche Rückzugsrecht samt Lohnfortzahlung zuerkannt wird. Amazons Vorkehrungen gegen das Virus seien ungenügend, sagen sie. Die Geschäftsführung weist das zurück.

Auch bei der französischen Post, der Staatsbahn SNCF, bei Logistikfirmen, Müllentsorgern, in der Landwirtschaft und in Industrieunternehmen ist der Betrieb teilweise gestört, weil sich Mitarbeiter auf die Rückzugsklausel berufen. Die Gewerkschaften behaupten, in vielen Unternehmen würden die Empfehlungen zu Mindestabständen zwischen den Mitarbeitern nicht berücksichtigt. Außerdem fehle es überall an Handschuhen, Desinfektionsgel und an Schutzmasken. Die allerdings fehlen überall. Auch und besonders in den Krankenhäusern. Aber auch die Arbeitgeberverbände klagen: Viele Beschäftigte hofften jetzt geradezu darauf, in Kurzarbeit geschickt werden - zumal die Regierung das Kurzarbeitergeld in der Corona-Krise aufgestockt hat.

Macron versucht jetzt, dem Arbeitskräftemangel in den "unentbehrlichen Branchen" mit einem weiteren finanziellen Anreiz entgegenzusteuern. Angestellte, die trotz Viruspandemie weiter am Arbeitsplatz erscheinen, sollten "durch ein Bonussystem belohnt werden", sagt der Präsident. Die Arbeitgeber sind aufgefordert, ihren tapferen Beschäftigten eine Risikoprämie in Höhe von 1 000 Euro zu zahlen. Steuerfrei

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Quelle:
SZ vom 21.03.2020
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