Süddeutsche Zeitung

Finanzdienste:Kein Fixpunkt mehr

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Vier Wochen vor dem Brexit ist die Situation für viele Fintechs in ganz Europa noch immer unklar. Für London ist das verheerend - und Berlin profitiert schon jetzt.

Von Björn Finke und Nils Wischmeyer, London/Köln

Es war ein ungewöhnlicher Schritt. Um sich vor den Folgen des Brexit zu schützen, kaufte das Zinsportal Raisin vor knapp eineinhalb Jahren ein Fintech in Großbritannien. PBF Solutions sollte es sein: britische Firma, britische Mitarbeiter, britische Lizenzen. Alles sollte so ausgerichtet sein, dass der Brexit Raisin nicht gefährlich wird.

Über das Online-Portal Raisin, besser bekannt unter dem Namen Weltsparen, können Kunden Geld an Banken in ganz Europa verleihen und bekommen dafür höhere Zinsen als in Deutschland. Raisin kassiert dafür eine Provision. Innerhalb Europas hat Raisin seit der Gründung 2013 etwa zehn Milliarden Euro zwischen Partnerbanken und Kunden vermittelt.

"Der UK-Markt ist in Europa der zweitgrößte Markt für Sparguthaben und daher außerordentlich attraktiv für uns", sagt Gründer Tamaz Georgadze. Gerade auch deswegen habe man eine siebenstellige Summe investiert. 25 Mitarbeiter arbeiten mittlerweile für Raisin in Großbritannien. Es ist ein radikaler Schritt, der zeigt: Fintechs aus Deutschland, aber auch aus Großbritannien müssen sich etwas einfallen lassen, um den Brexit heil zu überstehen.

Einfach ist das nicht. Zu viele Fragen sind offen sowohl über Regularien wie zur Zukunft des Finanzplatzes London. Wird es einen harten Brexit geben? Wird es schwieriger an Lizenzen zu kommen? Was passiert mit alten und neuen Verträgen? "Aktuell ist alles unklar, wenig transparent und mit viel Unsicherheit verbunden", sagt Raisin-Chef Georgadze. Im besten Fall wird der Brexit abgeblasen oder findet geordnet statt. Aber es könnte auch zu einem ungeregelten Austritt, also einem Chaos-Brexit, kommen oder zu einer kurzfristigen Verschiebung.

Zu befürchten ist, dass kontinentaleuropäische Banken und Sparer keinen einfachen Zugang mehr zum britischen Markt haben werden und umgekehrt. "Am Ende verlieren alle, aber besonders die Verbraucher", sagt Georgadze. Er selbst fühlt sich dank des Zukaufs gut vorbereitet. Für die Firma heißt es nun abwarten.

Wesentlich bedrohlicher als für die deutschen Fintechs ist der Brexit aber für die Konkurrenten in London, der Fintech-Hauptstadt Europas. Bisher können die Dienstleister mit einer britischen Lizenz Kunden in der ganzen EU bedienen. Passporting wird dieses Prinzip genannt. Doch nach dem Austritt - und nach einer möglichen Übergangsphase, in der sich wenig ändern soll - werden die Unternehmen vermutlich zusätzlich eine Genehmigung aus einem EU-Staat brauchen.

Manche eröffnen ein Büro auf dem Kontinent - andere verlegen die Zentrale

Die Londoner Online-Bank Revolut beantragte schon im vergangenen Jahr eine Lizenz in Litauen. Transferwise, ein Unternehmen, das günstige Überweisungen ins Ausland anbietet, verkündete im Januar, ein Büro in Brüssel zu eröffnen und dort eine Lizenz einzuholen. Die Zentrale beider Firmen bleibt in London.

Sum-Up hingegen verlegt wegen des Brexit sogar die Zentrale; Manager müssen umziehen. Die Firma wurde 2012 von Deutschen gegründet, residiert jedoch bisher in London und nutzt eine Genehmigung der britischen Finanzaufsicht. Das Unternehmen mit weltweit 1300 Beschäftigten ist in 31 Staaten tätig. Es ermöglicht kleinen Händlern und Selbständigen, ohne viel Aufwand Bank- und Kreditkarten zu akzeptieren. Als Lesegerät dient ein Kästchen, das mit dem Handy oder Tablet verbunden wird. Nach dem Brexit wird das Londoner Büro nur noch für den wichtigen britischen Markt verantwortlich sein. Der Hauptsitz wird in einem EU-Staat sein.

In welchen, will Gründer und Firmenchef Daniel Klein noch nicht verraten. "Aber schon seit anderthalb Jahren ziehen deswegen Manager um", sagt der 41-Jährige. "Der Brexit verändert Leben." Klein selbst wird seine langjährige Heimat London ebenfalls verlassen. Die Verlagerung der Zentrale sei nötig, um eine Lizenz in einem EU-Staat zu erhalten, sagt er. Zugleich behält Sum-Up die britische Genehmigung. "Dadurch entstehen unglaubliche Mehrkosten", klagt der Chef. Die Zahl der Beschäftigten in London soll weiter steigen, da der britische Markt kräftig wächst.

Dass vier Wochen vor dem Austrittstermin immer noch unklar ist, wie es zwischen dem Königreich und der EU weitergeht, sei "Wahnsinn", sagt Klein. Er glaubt, dass der Brexit London für Fintech-Gründer unattraktiver macht. "Wer mit seinem Unternehmen den großen EU-Markt bedienen will, wird nicht in London starten. Das wäre unlogisch", sagt er.

Viele Top-Kräfte wollen derzeit nicht auf die Insel - zu unsicher

Bislang bleibt die Metropole mit ihren 8,8 Millionen Einwohnern aber die Start-up-Kapitale des Kontinents. In den zwei Jahren nach dem EU-Referendum, von Sommer 2016 bis Sommer 2018, zogen Londons junge Technologie-Unternehmen 4,5 Milliarden Euro Investorengeld an - doppelt so viel wie Berlin und Paris zusammen. Besonders beliebt ist die Stadt bei Fintech-Firmen. Die brauchen neben Programmierern und Designern auch Finanzfachleute, und London ist ein weltweites Finanzzentrum. Tatsächlich floss im vorigen Jahr so viel Investorengeld wie nie zuvor in britische und damit vor allem Londoner Fintech-Unternehmen: 3,9 Milliarden Dollar nach Berechnungen der Beratungsgesellschaft Accenture. Das war mehr, als in sämtlichen anderen europäischen Staaten zusammen investiert wurde.

Viel Geld von Investoren bedeutet zugleich viel Bedarf an Talenten - aus dem In- und Ausland. Bisher war London für Technologie- und Finanzexperten aus aller Welt sehr attraktiv und fast immer erste Wahl unter den europäischen Großstädten. Das könnte sich aber ändern. Zum einen verlagern Banken und Versicherer wegen des Brexit einige Tausend ihrer gut 360 000 Londoner Arbeitsplätze aufs Festland. Zum anderen könnte es bald mühsamer werden, EU-Ausländer anzustellen.

Nach dem Austritt und einer Übergangsphase sollen EU-Bürger nicht mehr automatisch im Königreich arbeiten dürfen. Die konservative Regierung will die Zahl der Einwanderer senken. Doch soll es nach Planungen des Innenministers vor allem für Geringqualifizierte schwieriger werden. Hochqualifizierte werden weiterhin willkommen sein. Für EU-Bürger, die bereits im Königreich tätig sind, ändert sich ohnehin nichts.

Trotzdem hofft man in Berlin auf den Brexit. Natürlich nicht aus politischen Erwägungen, wohl aber wegen all der Fachkräfte und Talente, die es dann möglicherweise in die deutsche Hauptstadt locken könnte. Tatsächlich sehen einige Unternehmen bereits jetzt, dass der "Talentpool größer wird".

Konstanty Sliwowski ist Gründer der Caissa Global, einer Headhunting-Firma mit Sitz in London und Berlin, die hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte auch in der Finanzbranche vermittelt. Für ihn waren die vergangenen zwei Jahre "verrückt", wie er sagt. "Wenn ich vor dem Referendum jemandem einen Job in Amsterdam oder Barcelona angeboten habe, dann hieß es: Das ist ja schön und gut, aber ich würde gern nach London gehen. Das war der Hotspot." Seit dem Referendum sage das niemand mehr zu ihm. "Wenn ich heute einen Job in London anbiete, kommt fast immer eine Absage und die Frage, ob ich nicht was in Europa hätte, was Sicheres", so Sliwowski. Erst vergangene Woche habe ihn ein südamerikanischer Bewerber angerufen, der gern nach Europa ziehen will und zugleich betonte: aber bitte nicht nach Großbritannien.

Das führt dazu, dass es für den Headhunter immer schwieriger wird, hochrangige Stellen in Großbritannien zu besetzen. "Es ist den meisten zu unsicher jetzt nach Großbritannien zu gehen", sagt Sliwowski. Zu den Absagen komme noch hinzu, dass derzeit viele Top-Kräfte die Insel verlassen, die allermeisten mit Ziel Europa. Dort teilen sie sich auf. Einige gehen nach Amsterdam, andere nach Barcelona oder in die Schweiz. Ein großer Teil gehe auch nach Berlin. "Früher gab es nur einen Place-to-be und das war London. Mittlerweile gibt es viele, nur eben keinen mehr in Großbritannien", sagt Sliwowski.

Einer, der den Schritt von der Insel aufs Festland gemacht hat, ist Suria Ribeiro. Der 33-Jährige ist in Brasilien geboren und hat die vergangenen vierzehn Jahre in Großbritannien verbracht. Dort hat er unter anderem bei American Express, Barclays Cards und zuletzt bei Collinson gearbeitet, einer Firma, die weltweit Kundenbindungsprogramme entwickelt. Als das Brexit-Referendum kam, suchte Ribeiro einen neuen Job. "Am Anfang war das politischer Natur und natürlich auch ein emotionales Thema. Ich habe mich immer als Europäer gesehen", sagt er. "Mittlerweile aber sehe ich das auch als Vorteil für die Karriere." Oder anders: London wäre heute ein Karrierenachteil.

Vor knapp sechs Monaten heuerte er bei der Solarisbank an, einem Berliner Start-up. Die Solarisbank hat eine Banklizenz und leiht diese anderen Start-ups, damit sie Finanzgeschäfte abwickeln können. Die Firma sieht den Brexit als glücklichen Zufall, weil sie selbst kein Geschäft in Großbritannien hat, aber jetzt viele neue Fachkräfte von dort nach Berlin kommen. Nachteil für London.

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Quelle:
SZ vom 28.02.2019
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