Süddeutsche Zeitung

Fail-Videos:"Charlie bit my finger!"

Lesezeit: 2 min

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Jetzt mal ganz ehrlich: Würde jemand heute auf der Videoplattform Youtube sämtliche Filmchen entfernen, auf denen jemand gegen einen Laternenpfahl läuft, sich beim Skateboarden empfindliche Körperstellen prellt oder sich sonst irgendwie zum Deppen macht, dann gäbe es morgen nur noch einen einzigen Film dort mit dem Titel: "Gebt uns die Blamage-Videos zurück!"

Natürlich sind dramatische Beckenhörnchen, verfressene Ratten und niesende Pandas ebenfalls herausragende Protagonisten. Doch ist das Schadenfreude-Genre der "Epic Fails" derart beliebt, dass die Suche nach Menschen, die sich beim Auf-die-Schnauze-Fallen filmen, ein lukratives Geschäft geworden ist. Gerade vermeldet Facebook einen neuen Rekord: Mehr als 100 Millionen Menschen haben das Live-Video einer Frau im Auto gesehen. Deren Leistung: Sie zieht sich die Maske der Star-Wars-Figur Chewbacca über und lacht so über sich selbst, dass es ansteckt.

130 Mitarbeiter, die den ganzen Tag nach Fail-Videos suchen

"Das ist der neue Goldrausch", sagt Jonathan Skogmo. Er hat seine Firma Jukin Media bereits im Jahr 2009 gegründet, mittlerweile beschäftigt er 130 Mitarbeiter, die den ganzen Tag nichts anderes machen, als rund um die Uhr nach Videos zu fahnden, auf denen einem kleinem Kind in den Finger gebissen wird, ein Mädchen vor einer Seekuh flüchtet oder ein Teenager beim Selfie-Schießen neben den Bahngleisen von einem Zugführer getreten wird.

Das Unternehmen betreibt mehrere Youtube-Kanäle, produziert Fernsehshows in England und den USA und übernimmt die Vermarktung sowie Abmahnungen. Im April erreichte Jukin Media insgesamt mehr als zwei Milliarden Zugriffe: "Das sind die Videos, über die sich die Menschen im Büro unterhalten, das ist heutzutage Popkultur." Kein Wunder, dass es mittlerweile auch Konkurrenten wie Storyful oder Viralhog gibt. Sie alle suchen: Idioten, die ihre Idiotie vergolden möchten.

Skogomo hat einst bei einer Heimvideo-Sendung gearbeitet, sein Job: Die von Zuschauern eingesandten Videos daraufhin zu prüfen, ob die lustig sind. "Die Menschen haben ihre peinlichen Sachen damals umsonst bereitgestellt. Dabei ist es eine Goldgrube, diese Inhalte zu besitzen und zu vermarkten", sagt er. Sie seien billig zu produzieren, vor allem aber funktionieren sie ohne größeren Aufwand überall auf der Welt: "Ein schmerzhafter Schrei ist in jeder Sprache gleich."

300 000 Dollar für einen Tritt gegen den Kopf

Jukin Media kauft die Videos oder beteiligt die Produzenten an den Einnahmen. Insgesamt hat das Unternehmen eigenen Angaben zufolge mehr als fünf Millionen Dollar an die Produzenten lustiger oder schmerzhafter Videos bezahlt. Ein gewöhnlicher Tritt ins Gemächt bringt weniger als 300 Dollar, ein kreativer Streich dagegen kann schon mal 1000 Dollar wert sein. Für einzigartige Schmerzen gibt es mehr. Viel mehr. Jared Frank etwa, der einen Fußtritt gegen den Kopf abbekam, soll mit seinem Video bereits mehr als 300 000 Dollar verdient haben. Es wurde 39 Millionen Mal auf Youtube angesehen und auf zahlreichen Fernsehsendern gezeigt, die bis zu 1500 Dollar für solch skurrilen Inhalte bezahlen. Frank trat in Talkshows auf, dank seiner Vermarkter darf er nun berichten, dass ihn der Schlag gegen den Hinterkopf nicht klüger, aber reicher gemacht hat.

Wenn man kein Problem damit hat, dass Millionen Menschen über einen lachen, kann es sich heute also durchaus lohnen, ein Idiot zu sein. Wobei: Das war vor 50 Jahren auch nicht anders, schließlich endet Heinz Erhard sein wunderbares Gedicht Schule so: "Hieraus ersieht der Dümmste klar, dass der, der dümmer, klüger war."

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Quelle:
SZ vom 24.05.2016
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