Süddeutsche Zeitung

Eiscreme:Italiens einziges Wirtschaftswunder

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Den Banken des Landes geht es schlecht wie selten, aber die Eisdielen erleben einen Boom. Nun gibt es - wie wie stets im Sommer - eine neue Bestenliste.

Von Oliver Meiler

Beim Genuss eines Gelato gibt es diesen Moment, und er setzt betrüblich früh ein, da schmilzt das Eis in der Sonne einfach weg. Es zerrinnt, als hätte es einem nie gehört, und tropft auf Hände, Hose, Hemd. Gerade hatte es doch noch in den beschlagenen Stahlbehältern gelegen, rauchend vor Kälte, verlockend bunt und fest hinter dem Thekenglas: Stracciatella, Limone, Fragola, Bacio. Schon fließt es weg, wie ein enttäuschtes Versprechen. Man versucht dann mit akrobatischem Drehen der "coppetta", des kleinen Pappbechers, oder des "cono", des Waffelhorns, bei gleichzeitigem Verdrehen des Kopfes die Wonne irgendwie zu retten. Wie man das als Kind schon tat.

Sommer in Italien - es würde ihm ein schöner Teil seiner Süße und Leichtigkeit fehlen, gäbe es die Gelateria nicht, die Eisdiele, diese Raststätte der Versuchung. Es gibt sie nun überall, und jedes Jahr werden es mehr: 40 000 Gelaterie zählt Italien nun. Das Geschäft wächst in der Wirtschaftskrise gut wie wenige andere, was auch mal eine soziologische Studie rechtfertigen würde. Fünf Milliarden Euro setzt Italiens Eisbranche mit 150 000 Mitarbeitern im Jahr um. Da ist die Produktion von Eismaschinen und Kühlschränken dabei. Man ist globaler Marktleader. Und das sollte keinen wundern: Die Chinesen mögen ja vielleicht die Ersten gewesen sein, die gesüßtes Eis aßen; doch zur kulinarischen Alltagsfreude haben es die Norditaliener (mit Cremigem) und die Süditaliener (mit Fruchtigem) erhoben. Seither läuft das Crescendo.

Das Eis sollte ein bisschen was kosten, sonst ist es verdächtig

Unten in der Gasse, an der zentralen Via dei Falegnami in Rom, öffnet gerade ein neuer Laden, der gefühlt tausendste im Viertel: Scimmia Factory, heißt er, Affenfabrik, eine Kette aus Neapel. Offenbar wird es immer schwieriger, die Originalität der vielfältigen Konkurrenz mit noch mehr Originalität zu kontern, auch beim Namen. Die Palette der Sorten, der "gusti", ist längst von Herrschaften revolutioniert worden, die das Gelato in die höhere Gastronomie entführt haben. Man trifft nun auf Eis mit dem Geschmack von gut gereiftem Parmesan oder von Gorgonzola, von Trüffeln und Barolo. Tomatensorbet ist etabliert. Basilikum, Thymian, Lavendel - alles möglich, alles dabei.

Wie jeden Sommer erscheinen nun wieder Ranglisten der besten Eisdielen. Etwa so, wie man das von den Restaurants kennt. Auf dissapore.com zum Beispiel erhält man die Übersicht über die 100 besten "Gelaterie artigianali" für 2016. Das Gütesiegel "hausgemacht" ist besonders wichtig. Da die Gesetze es nicht genügend definieren, brüsten sich viele der Eigenproduktion, obschon sie nichts wirklich selber machen. Gut ist ein "Gelataio" nur dann, wenn er weder Farbstoffe noch Chemie beimischt und ausschließlich Saisonfrüchte verarbeitet, frische Milch statt Milchpulver. Das Eis sollte auch ein bisschen was kosten, sonst ist es verdächtig.

Den ersten Platz belegt dieses Jahr übrigens die Gelateria Capolinea im norditalienischen Reggio Emilia. Empfohlen wird "Cremino tricolore" - Pistazien, weiße Schokolade, Himbeeren. Die Farben Italiens in aller Pracht, bevor sie unweigerlich und viel zu schnell ineinanderfließen und über die Hände tropfen.

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Quelle:
SZ vom 06.08.2016
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