Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Das deutsche Valley:Die Rettung heißt: Humane Marktwirtschaft

Lesezeit: 3 min

Die Digitalisierung krempelt Staat und Gesellschaft um. Wie soll die Politik darauf reagieren? Fünf Szenarien - und ein Königsweg.

Von Marc Beise

Niemand macht in Fragen der Digitalisierung dem Thomas Sattelberger aus München etwas vor. Der Abgeordnete gehört im Deutschen Bundestag sicher zu den kundigsten Menschen auf dem Feld dieses Mega-Trends, der umtriebigste Fachpolitiker ist er allemal. Keine Forschungseinrichtung, kein Start-up, keine Diskussionsrunde ist vor ihm sicher, und wer so viel unterwegs ist und dabei auch zuhören kann, der ist am Ende eben genau das: ein Experte auf seinem Gebiet. An diesem Mittwoch wird er in einer Online-Konferenz bisher unveröffentlichte Forschungsergebnisse diskutieren, die er gemeinsam mit einem Team des Leipziger Thinktanks 2bAhead in den vergangenen eineinhalb Jahren erarbeitet hat.

Die Leipziger haben auf der Basis von Interviews mit Akteurinnen und Akteuren der digitalen Welt fünf Szenarien entwickelt, wie sich Deutschland in Zeiten der Digitalisierung entwickeln könnte. Alles nicht völlig überraschend, aber originell sortiert. Denn es ergibt sich dabei ein Spannungsfeld, an dessen Außenpolen einerseits das Szenario eines digitalen Sozialdarwinismus libertärer Prägung steht und andererseits das eines digitalen Staatskapitalismus sozialistischer Prägung. Zwischen diese Extrempole verorten die Autoren der Studie die drei Szenarien "Soziale Marktwirtschaft 1.0", "Humane Marktwirtschaft" und "Postwachstums-Gemeinwohlökonomie". Es lohnt der konkretere Blick.

Digitaler Sozialdarwinismus: Das ist ungefähr das, was heute im kalifornischen Silicon Valley vorzufinden ist. Teilhabe und Wohlstand ist möglich, aber nur, wenn man sich mit Haut und Haaren auf die großen Digitalmonopolisten einlässt, Apple, Google, Facebook usw. Eigene Communities ermöglichen die langfristige Bindung hochqualifizierter Mitarbeiter ans Unternehmen, deren Familien hochwertige Bildung, medizinische Versorgung und auch zivilgesellschaftliche und soziale Vorteile gewährt wird. Jenseits dieser privilegierten Schichten werden die Menschen in prekäre Verhältnisse getrieben.

Das andere Extrem, den digitalen Staatskapitalismus, kennt man aus China, wo die Führungsriege der Kommunistischen Partei Langfristziele auf dirigistische Weise vorgibt, fußend auf einem unausgesprochenen Vertrag mit der Bevölkerung: Ihr bekommt Wohlstand und gebt dafür eure Freiheit. Beide Szenarien sind für Deutschland nicht wirklich attraktiv. Bleiben also die drei Möglichkeiten in der Mitte.

Die soziale Marktwirtschaft braucht dringend mehr als nur ein Update

"Soziale Marktwirtschaft 1.0" ist die Fortschreibung des heutigen Status Quo - angesichts der umwälzenden Kraft der Digitalisierung wohl keine gute Idee. Nach Ansicht der Experten wird die deutsche Wirtschaft bis 2035 global an Bedeutung verlieren, weil sie aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen und eigener Versäumnisse nicht in der Lage sein wird, rechtzeitig Ressourcen für notwendige Technologiesprünge zu mobilisieren. Die Industrie verpasst den Anschluss an die Weltspitze, die Unternehmen altern, Gründungen schrumpfen. Digitale Arbeit produziert wenige Gewinner und viele Verlierer.

Eine Postwachstums-Gemeinwohlökonomie würde die gezielte Abkehr von globaler Industrieproduktion bedeuten, der Fokus läge auf Dezentralität und regionaler Wirtschaft, ein Land der Selbstversorger. Arbeit und Einkommen entsteht in solidarischen Communities. Hier hat das viel diskutierte Grundeinkommen sein natürliches Zuhause. Aber reicht das, um den Wohlstand der Industrie-Weltmacht Deutschland aufrechtzuerhalten?

Am erfolgversprechendsten ist wohl das hier als letztes behandelte Szenario, das auch Sattelbergers Favorit ist: die "Humane Marktwirtschaft". Hier würde es Deutschland gelingen, sich nach der Überwindung der Folgen der Corona-Krise mit Innovation und Flexibilität zwischen den USA und China Handlungsoptionen zu erarbeiten. Das heißt: Der Großteil des deutschen Mittelstands überlebt, wenn er seine Produktion auf die neuen Technologien anpasst und einen digitalen Servicekranz um seine Produkte schafft. Neugründungen in der Digitalwirtschaft, in Biotechnologien, Space, Greentech und Cleantech legen die Basis für einen neuen Mittelstand und neue Hidden Champions, die technologisch und geschäftsmodellseitig weltweit in der globalen Spitze mitspielen.

Arbeit 2035 wird in diesem Szenario durch anhaltenden Wandel von Fertigkeiten und einer Vielfalt von Fähigkeiten bestimmt sein, die bereits in der Schule gelehrt werden, von flexiblen Arbeitsmodellen, die sowohl andauernde Projektarbeit ermöglichen als auch den langfristigen Verbleib in Unternehmen, und von Organisationsmodellen, in denen die Entscheidungen in kleine autonom arbeitende Teams delegiert wird. Gesetzliche Barrieren in der Forschung, die zum Abwandern von Talent führen können, werden eingerissen.

Dazu käme die Etablierung eines zweiten, durchlässigeren, berufsbegleitenden Bildungssystems, das nicht auf formale Abschlüsse, sondern auf erworbene Kompetenzen setzt und Menschen nicht nur zu Beginn, sondern lebenslang begleitet. Die humane Marktwirtschaft würde den Geist einer digitalen Gründergesellschaft atmen - mit Schutzrechten für Schutzbedürftige und Freiheit dort, wo die digitale Ära sie im Unterschied zum Industriezeitalter ermöglicht.

Klar ist: Solche Szenarien sind immer konstruiert, modelliert, abstrahiert. Idealwelten, die es in dieser Form mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geben wird. Doch Elemente und Kombinationen aus allen Szenarien werden in den nächsten Jahren relevant sein. Von ihrer Gewichtung hängt am Ende ab, in welche Zukunft Deutschland steuern wird.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5297629
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.