Süddeutsche Zeitung

Digitaler Tatendrang:Wie Avaaz und Change.org den Online-Aktivismus prägen

Lesezeit: 4 Min.

Von Johannes Kuhn, San Francisco

Die Mission ist global, der Raum im Vergleich dazu nur sehr klein: Gedrängt sitzen Dutzende Mitarbeiter von Change.org vor ihren Bildschirmen. Ihr Büro im sonnigen Potrero Hill, einem hügeligen Stadtteil von San Francisco, platzt aus allen Nähten. Change.org-Gründer Ben Rattray seufzt - ein Umzug wäre angebracht, doch in einer Gegend voller Start-ups mit Hyperwachstum sind gute Räumlichkeiten schwer zu finden.

Die meisten politisch aktiven Deutschen mit Digitalanschluss dürfte schon einmal über eine Change.org-Petition gestolpert sein. "Wir sind global und haben zufällig einen amerikanischen Gründer", spielt Rattray den Standort herunter, die lokalen Büros weltweit hätten alle Freiheiten. Gleichzeitig erinnern Sätze wie "Wir sehen uns wie Twitter und Youtube, aber für soziale Veränderungen" daran, dass hier eben doch das ganz große Rad gedreht wird.

85 Millionen Nutzer hat Change.org nach eigenen Angaben, jeden Tag kommen 1000 Petitionen dazu. Die Bandbreite reicht von Resolutionen zu Gesetzesänderungen über die Anti-Pegida-Petition (445.000 Unterschriften) bis hin zu Forderungen an Firmen, ihre Werbeslogans zu ändern. Auch wenn Change.org naturgemäß erfolgreiche Petitionen hervorhebt, lässt sich deren Einfluss nicht immer bestimmen: Iran dürfte nicht alleine wegen 700 000 Unterschriften eine politische Gefangene freigelassen haben, andererseits findet selbst manch kleinere, lokale Petition über Change.org ein landesweites, manchmal sogar globales Publikum.

Klick-Aktivismus und Polit-Müdigkeit

Zwar gibt es gerade im politischen Establishment immer noch Zweifel, dass diese Form der Teilhabe mehr ist als bloßer "Klick-Aktivismus", doch digitale Petitionen sind inzwischen ein etabliertes Kampagnen-Instrument. Ob sie etwas an der Politik-Müdigkeit in westlichen Demokratien ändern oder diese sogar verstärken, ist bislang kaum erforscht. "Menschen werden nicht apathisch geboren, sondern sie werden es, weil die vorhandenen Mittel sie davon überzeugen, nichts bewirken zu können", sagt Rattray. Er sagt für die kommenden Jahren den Beginn eine Phase voraus, in der politische Institutionen sich auf die neuen Mitbestimmungswünsche einstellen - seit längerem können deshalb Politiker und Firmen direkt auf Petitionen antworten.

Da sich Change.org eher in einer Vermittler-Rolle sieht, will es nicht in eine politische Schublade gesteckt werden (bestimmte reaktionäre Themen sind durch die Geschäftsbedingungen allerdings geblockt, da sie in die Kategorie Diskriminierung fallen). "Die meisten Kampagnen sind in keine Richtung besonders politisch. Nicht links oder rechts, sondern von unten nach oben", sagt Rattray. David gegen Goliath, das erscheint im 21. Jahrhundert näher am Zeitgeist als Clinton gegen Bush - und entspricht der Idee der Tech-Industrie, schlicht eine "Plattform" für Nutzer-Inhalte zu stellen.

Der engagierteste Spammer der Welt

"Wir sind keine Plattform. Wir haben eine Plattform, aber das ist nur ein kleiner Teil", sagt Ricken Patel bestimmt. Wenn man so möchte, ist Patel einer engagiertesten Spammer der Welt: Unter dem Namen seines Gründer verschickt das Kampagnennetzwerk Avaaz seinen Newsletter, der an bis zu 40 Millionen "Mitglieder" geht, die sich für ihn eingetragen haben.

Auch Avaaz nutzt Petitionen, die Organisation hat sich das Ziel gesetzt, die "Lücke zu schließen zwischen der Welt, die wir haben, und der Welt, die wir wollen", sagt der britisch-kanadische Patel. "Wir haben keine Ideologie, nur die, das die Welt von den Menschen geformt werden sollte, die auf ihr leben."

Das klingt ähnlich universell wie Change.org, doch Patel macht keinen Hehl daraus, dass seine Organisation sich als soziale Bewegung sieht und konkrete politische Ziele verfolgt: Gerade in der Klimapolitik und im Tierschutz gilt das Netzwerk, das vor allem auf Freiwillige setzt, als wichtiger Multiplikator, ruft häufig auch zur Teilnahme an Demonstrationen auf. Diese Positionierung spricht ein bestimmtes Klientel an: Nur fünf Prozent der Nutzer bezeichnen sich als konservativ, etwa zwei Drittel sind dem Lager zuzurechnen, das in den USA "progressiv" genannt wird.

Avaaz konzentriert sich auf wenige Kampagnen und testet zunächst deren Resonanz über eine E-Mail an 10 000 Mitglieder. Nimmt das Thema Fahrt auf, beginnt ein Team von Freiwilligen mit der Aktivierung von Unterstützern, einer Medien- und Viralkampagne und gezielter Lobbyarbeit. Statt thematisch in die Breite zu gehen, sucht Avaaz also breite Unterstützung für seine Kernthemen.

Die langfristigen Ziele machen Erfolg zwar häufig schwer messbar, doch sie lassen eine gesamtgesellschaftliche Vision erkennen. Avaaz steht in der Tradition von MoveOn.org, jener linken Demokraten nahestehende Bewegung, die um die Jahrtausendwende als Pionier in Sachen Graswurzel-Aktivismus im Netz galt. Patel war einst dort selbst engagiert.

"Bestimmte Generationen haben sich von der klassischen Machtpolitik abgewendet, wissen aber, dass die wichtigen Kämpfe politisch gewonnen und verloren werden", beschreibt er die Gegenwart. Im Zweifelsfall greift seine Organisation dabei zu unorthodoxen Mitteln: Während des Aufstands in Myanmar 2007 und in Syrien vor Ausbruch des Bürgerkriegs rüstete Avaaz Aktivisten aus, damit diese die Vorgänge dokumentieren konnten. Die Einmischung in Syrien blieb nicht ohne Kritik.

Logik der Aufmerksamkeit

Eine klassische Firma könnte einen solchen Einsatz nur schwer begründen, Avaaz fungiert jedoch als gemeinnützige Organisation und finanziert sich nach eigenen Angaben vorwiegend durch Kleinstspenden, die aber zusammen eine Millionensumme ergeben. Change.org ist als Unternehmen mit gesellschaftlichem Nutzen (B-Corporation) eingetragen und deshalb nicht nur seinen Investoren, die insgesamt 42 Millionen Dollar in die Firma gesteckt haben, sondern auch den festgelegten gemeinnützigen Zielen verpflichtet.

Beiden Plattformen ist gemein, dass sie im Zeitalter der viralen Link-Verbreitung weiter wachsen, aber in den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie gefangen zu sein scheinen: Je plakativer die Botschaft und je größer die Konsensmasse, desto mehr Unterstützer finden die Forderungen. Weil das Ziel ist, Druck aufzubauen, bleibt für Nuancen und Diskurs wenig Platz.

Dabei sehen sowohl Patel, als auch Rattray in zivilgesellschaftlichen Debatten die Zukunft des Online-Aktivismus. Die Frage aber bleibt, ob Change.org und Avaaz die richtigen Orte dafür sein werden.

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