Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise:Osteuropa liegt darnieder

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Länder wie Polen, Tschechien und Rumänien sind extrem abhängig von der Automobilindustrie. Sie leiden darunter, dass die Fabriken schließen mussten. Notenbanken und Regierungen können kaum helfen.

Von Florian Hassel, Warschau

Mitte März schlossen die Fabriken von VW und seinen Töchtern in Polen, Tschechien und der Slowakei, ebenso wie das Werk von Fiat in Serbien und die Fabriken der Renault-Tochter Dacia, von Ford und Michelin in Rumänien. Schon da war klar, dass das wirtschaftliche Erdbeben der Corona-Krise auch Zentral-, Südost- und Osteuropa erfasst. Es ist zudem ein Beben, für dessen Folgen die Länder noch schlechter gewappnet sind als etablierte Volkswirtschaften Westeuropas.

In der Slowakei steht die Autoindustrie samt Zulieferern für die Hälfte des Industrieumsatzes, in Tschechien macht allein Skoda Auto mit über 32 000 Mitarbeitern ein Zehntel der Wirtschaftsleistung aus. Wie stark der Einbruch ausfallen wird, weiß niemand. Dabei haben Mitarbeiter der Autowerke und andere Festangestellte noch Glück im Unglück: Zwar haben andere Länder kein Kurzarbeiterprogramm wie Deutschland. Doch Länder wie Polen oder Rumänien wollen zumindest einen Teil der Gehälter nun geschlossener Firmen weiterzahlen - in Polen drei Monate lang. Das aber löst selbst in der größten Volkswirtschaft in Zentral- und Osteuropa die massiven Probleme nicht.

Über ein Viertel aller polnischen Arbeitnehmer arbeitet nur mit Zeitverträgen ohne Absicherung. Vier Millionen Polen arbeiten in Ein-Personen-Firmen oder Kleinfirmen mit typischerweise ein, zwei Mitarbeitern. Dazu kommen rund 2,6 Millionen Freiberufler, die bestenfalls einen Werkvertrag haben: Rund 300 000 von ihnen arbeiten etwa in den nahezu komplett geschlossenen Restaurants. Sie sollen umgerechnet knapp 500 Euro bekommen, doch nur einmal - das verzögert den Fall ins Nichts kaum.

1,3 Millionen Polen, die bisher in Deutschland arbeiteten, stehen ohne Verdienst da

Zwar steht Polen kurz vor der Annahme eines Krisenpaketes von umgerechnet 46 Milliarden Euro. Doch staatliche Kreditlinien oder die Aussetzung von Zahlungen in die Sozialkasse helfen Firmen ohne alle Einnahmen nur bedingt. Nur gut ein Zehntel des Paketes ist als direkte Unterstützung gedacht; Unternehmer und Verbände sehen die Hilfe als unzureichend.

Ohne Verdienst stehen auf einmal auch viele der über 1,3 Millionen bisher in Deutschland und 800 000 in England arbeitenden Polen da. Das Drama spielt sich zudem an allen Grenzen ab: Tschechien verbot am Montagabend das bisher vom Reiseverbot ausgenommene Berufspendeln. Das trifft im Süden und Südosten Polens 26 000 Menschen, die nach Tschechien fuhren - oder rund 50 000 Tschechen, die täglich nach Österreich oder Deutschland pendelten.

Tschechien und Polen verlieren auch zu Hause massiv: In Tschechien etwa trägt der Tourismus sonst acht Prozent zur Wirtschaftsleistung bei. Polen fehlen nicht nur die Touristen in Krakau, Warschau oder Danzig, sondern auch die zuvor rund 40 000 Shopping-Touristen monatlich, die vor allem aus Deutschland über die Grenze zum Einkaufen kamen.

Dramatisch wird es auch im 18 Millionen Einwohner zählenden Rumänien: Dem vergleichsweise armen EU-Land fehlt bald ein Großteil der zwei Milliarden Euro, die der Weltbank zufolge bisher über 1,5 Millionen Rumänen allein aus Italien und Deutschland an ihre Familien in die Heimat schickten.

Wie in Polen sind in Rumänien die meisten Unternehmen Kleinfirmen ohne Rücklagen. Dem Infodienst Termene zufolge könnte mindestens ein Drittel der rund 800 000 Kleinfirmen im Land bald bankrott sein. Von fünf Millionen Beschäftigten könnte eine Million die Arbeit verlieren, kalkuliert die Beratungsfirma Frames. Die wenigen Großfirmen der Autoindustrie wie Dacia, Ford oder Michelin und über 400 Zulieferer stehen in Rumänien für eine Viertelmillion Jobs, doch fast alle haben die Produktion eingestellt oder reduziert. Bis Freitag gingen bei der Regierung bereits 400 000 Mitteilungen über suspendierte Stellen ein. Bukarests Spielraum ist begrenzt, auch weil die vor einem halben Jahr abgelöste postkommunistische Regierung ihre Macht über Jahre mit immer neuen Sozialleistungen sicherte und das Haushaltsdefizit nach oben ging.

Die Ukraine befürchtet, dass eine halbe Million Menschen dauerhaft ihre Jobs verlieren könnten

Das Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche in Wien nimmt an, dass die Krise die Spanne zwischen wohlhabenden und ärmeren Ländern noch vergrößert - zum Beispiel, weil EU-Länder die finanzielle Feuerkraft der Europäischen Zentralbank und kreditwürdige Regierungen hinter sich haben. Dagegen haben viele Länder Süd- oder Osteuropas weder schlagkräftige Zentralbanken noch uneingeschränkten Zugriff auf die internationalen Kapitalmärkte. Und ob in Polen und Tschechien, Rumänien oder der Ukraine - überall gilt: Viele Bürger haben Immobilien- oder Verbraucherkredite aufgenommen und keine oder nur geringe Ersparnisse.

Acht führende Wirtschaftsvereinigungen der Ukraine warnen, dass mindestens eine halbe Million Menschen dauerhaft ihren Job verlieren könnten. Dazu kommen wegfallende Transfers der rund eine Million Ukrainer, die bisher im Nachbarland Polen ihr Geld verdienten und wie im Falle Rumäniens einen großen Teil zu ihren Familien in die Heimat schickten.

Gerade erst begann die Ukraine an, sich halbwegs vom Verlust ihres industriellen Herzens in der Ostukraine und den Kosten des Moskauer Stellvertreterkrieges zu erholen. Doch erst feuerte Präsident Selenskij Anfang März die Regierung, dann traf die Wucht der Corona-Krise auch die Ukraine. Seit Anfang 2020 hat die ukrainische Währung fast ein Fünftel ihres Wertes verloren, musste die Zentralbank schon ein Zehntel ihrer kargen Devisenreserven ausgeben, damit die Währung nicht völlig abstürzt. Schon jetzt klaffen milliardenschwere Löcher im Haushalt. Und dazu muss Kiew dieses Jahr mehr als fünf Milliarden Kredite zurückzahlen.

Kiew war schon vor der Coronakrise kaum kreditfähig. Die einzige Hoffnung ruht auf dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Der sagte Kiew im Dezember prinzipiell eine Kreditlinie von 5,5 Milliarden Dollar zu. Zum Abschluss aber kam es bisher nicht, da Kiew verlangte Reformen nicht umsetzte und ein Gesetz verschleppte, das die Rückgabe der 2018 mit Milliardenaufwand verstaatlichten PrivatBank an den umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomoiskij ausschloss. Ebenso wenig unternimmt die Ukraine etwas gegen andere Oligarchen, die der Staatskasse insgesamt Milliarden schulden.

Präsident Selenskij möchte angesichts der leeren Kassen gar, dass der IWF die im Dezember anvisierte Kreditlinie von 5,5 auf sieben Milliarden erhöht und nochmal vier Milliarden aus einem IWF-Notfonds zur Bekämpfung der Corona-Krise bereitstellt. Doch der IWF beharrt darauf, dass es ohne ein Anti-Kolomoiskij-Gesetz, weitere Reformen im Bankensektor und eine Landreform kein Geld gibt. Am vergangenen Dienstag reichte die Regierung nach monatelanger Blockade durch von Kolomoiskij kontrollierte Parlamentarier ein entsprechendes Bankengesetz im Parlament ein - möglicherweise wird es am Montag beschlossen.

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SZ vom 30.03.2020
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