Süddeutsche Zeitung

Londoner Börse:Milliarden-Angriff aus Hongkong

Lesezeit: 2 min

Von Christoph Giesen und Alexander Mühlauer, Peking/London

Welch eine Symbolik: Die Börse aus der derzeit mit Abstand chaotischsten Finanzmetropole will ausgerechnet den Handelsplatz der anderen globalen Chaos-City übernehmen. Hongkong bietet für London. Die ehemalige Kronkolonie wildert in der einstigen Heimat. Ein Gebot über 32 Milliarden Pfund (umgerechnet etwa 35 Milliarden Euro) wurde am Mittwoch abgegeben - und das in maximal unsicheren Zeiten.

In Hongkong halten Demonstrationen die Stadt beinahe jeden Tag in Atem. Ständig Gewalt und Tränengasschwaden, die durch die Häuserschluchten ziehen. Die Frage dort ist: Wird Peking seine Truppen schicken, um den Kampf der Demokratiebewegung zu ersticken? In Großbritannien wütet derweil Premierminister Boris Johnson im Alleingang. Sein Brexit-Kampf sorgt für große Unsicherheit - auch in der Londoner City. Kein Wunder, dass das Übernahmeangebot in der internationalen Finanzwelt mit ziemlicher Überraschung aufgenommen wurde.

Ein Zusammenschluss der beiden Unternehmen würde einen weltweiten Marktführer unter den Börsenbetreibern schaffen, erklärte der Konzern aus Hongkong. Bei den Anlegern sorgte das gewagte Vorhaben jedenfalls schon für Vorfreude: Die Aktie der London Stock Exchange (LSE) legte zunächst um gut 16 Prozent zu. Für die geplante Übernahme stellt die Hong Kong Exchanges and Clearing (HKEX) allerdings eine Bedingung: Die von der LSE Anfang August angekündigte Übernahme des Datendienstleisters Refinitiv dürfe nicht zustande kommen.

Der anvisierte Deal zwischen der Londoner Börse und den bisherigen Refinitiv-Eignern Blackstone und Thomson Reuters wird derzeit von den Kartellbehörden und Finanzaufsehern in den USA, der Europäischen Union und anderen Ländern geprüft. Refinitiv ist die ehemalige Finanzmarktsparte von Thomson Reuters, dem Mutterkonzern der Nachrichtenagentur Reuters. Sie wurde 2018 mehrheitlich von Blackstone übernommen. Das Unternehmen bietet unter anderem Börsenkurse und Konjunkturdaten sowie Informationen zu Fusionen und Übernahmen.

Angesichts der laufenden Verhandlungen mit Refinitiv, reagierte der Börsenbetreiber LSE am Mittwoch sehr verhalten auf das Angebot aus Hongkong. Die geplante Übernahme von Refinitiv werde weiter vorangetrieben, man mache Fortschritte, hieß es aus London. Das Angebot der HKEX komme "unabgestimmt und stehe unter vielen Vorbehalten", erklärte die LSE. Man werde es dennoch prüfen. Der Hongkonger Börsenbetreiber hatte im Jahr 2012 bereits die Londoner Metallbörse für 1,4 Milliarden Pfund (knapp 1,6 Milliarden Euro) übernommen. Auch die LSE stand bereits im Fokus von Fusionsvorhaben: Ein Zusammenschluss mit der Deutschen Börse scheiterte vor einigen Jahren am Veto der EU-Kommission.

Ob die nun aus Hongkong geplante Übernahme der LSE klappt, ist angesichts der politischen Unsicherheit fraglich. In Hongkong wird derzeit auch direkt vor der Börse protestiert. Untergebracht ist sie gleich neben einer der geschäftigsten Malls der Stadt, unweit des Regierungsviertels. Die Börse selbst ist fast eine Oase der Ruhe. Ein einsamer Wachmann steht an der Pforte, viel hat er nicht tun, der Starbucks neben dem Eingang ist deutlich besser frequentiert.

Den Handelsraum haben sie Ende 2017 geschlossen. Nicht einmal ein Dutzend Händler fand sich zuletzt ein. Man läuft über Teppiche, an den Wänden hängen alte Aufnahmen, aus einer Zeit als hier noch richtig was los war. 1100 Händler drängten sich hier einst lauthals schreiend, die Telefonhörer an die Ohren gepresst. 1993 dann der erste chinesische Börsengang: Die Brauerei Qingdao, natürlich gab es Freibier. Immerhin der alte Gong ist noch da - gegossen aus Bronze, wird er stets geschlagen, wenn ein Unternehmen an die Börse geht.

Und das passierte bis vor kurzem noch sehr regelmäßig: Kein Handelsplatz der Welt boomte so sehr wie Hongkong, nirgendwo sonst wurden bis Juni, als die Demonstrationen begannen, größere Börsengänge gestemmt. Im September sollte der ganz große Wurf folgen: Chinas Onlinehändler Alibaba plante eine Zweitnotierung in Hongkong. Bis zu 20 Milliarden Dollar hätte das einbringen sollen - abgesagt wegen der Demonstrationen.

Trotz der Krise ist Hongkong für chinesische Unternehmer noch immer die wichtigste Anlaufstelle, um an Kapital zu kommen. Die Handelsplätze in Shanghai und Shenzhen sind viel zu volatil. Dazu kommt die Rechtssicherheit: In Hongkong gilt das britische Handelsrecht. Für Investoren ist das deutlich attraktiver als die chinesische Justiz.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4596379
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.09.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.