Süddeutsche Zeitung

Forum:Bildungsverluste bleiben unter dem Radar

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Schüler in Corona-Quarantäne sollten dem Unterricht digital zugeschaltet und besser unterstützt werden. Sonst werden die Lernrückstände durch die Pandemie noch größer als jetzt schon

Von Veronika Grimm und Ludger Wößmann

Pandemiebedingte und gesundheitspolitische Maßnahmen haben während der Corona-Pandemie immer wieder dazu geführt, dass die Schulen und Betreuungseinrichtungen schließen mussten. In Deutschland waren die Schulen im internationalen Vergleich besonders lange geschlossen. Dafür wurden zumeist weniger strikte Einschränkungen für Erwachsene durchgesetzt als etwa in anderen europäischen Ländern. Es ist daher zu begrüßen, dass die aktuellen Corona-Maßnahmen konsequent die Potentiale von Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Leben und am Arbeitsplatz ausnutzen, Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen aber - mit Maskenpflicht ab dem Schulalter- geöffnet bleiben.

In aktuellen Studien zeichnen sich bereits deutliche Lernrückstände als Resultat der coronabedingten Schulschließungen ab. Die negativen Auswirkungen sind für jüngere Kinder stärker als für ältere - und besonders deutlich für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien. Die Lernrückstände werden sich ohne zielgerichtetes Gegensteuern langfristig deutlich negativ auf individuelle Einkommen und die gesamtwirtschaftliche Produktivität auswirken. Gerade in einer Zeit, in der der Fachkräftemangel zu den größten Herausforderungen in unserer alternden Gesellschaft zählt, sind diese Entwicklungen besonders gravierend. Das Ifo-Institut und der Sachverständigenrat haben wiederholt angemahnt, frühzeitig gegenzusteuern. Bildung muss in unser aller Interesse oberste Priorität erhalten.

Vor diesem Hintergrund ist es besorgniserregend, dass vielerorts weiter ansteigende Bildungsverluste unter dem Radar laufen. Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen ist noch ungeimpft. Seit Wochen nehmen die Quarantänefälle zu. Derzeit befinden sich deutschlandweit über 150000 Schülerinnen und Schüler in Quarantäne. Noch weit bis ins kommende Jahr wird es immer wieder viele betreffen.

Der Umgang der Schulen mit dieser Situation ist uneinheitlich geregelt. Informationen, wie Betroffene am Unterricht teilhaben sollen, finden sich auf den Informationsseiten zu Corona und Schule allenfalls spärlich. Offenbar gibt es kein verbindliches Konzept für die Beschulung während der Quarantäne, obwohl es viele treffen wird und - einmal mehr - sozial Benachteiligte häufiger.

Die Schulen handhaben den Umgang mit Quarantänefällen unterschiedlich. Manche schalten Schülerinnen und Schüler in Quarantäne digital zum Unterricht und wechseln bei einer Quarantäne für Klassenverbände selbstverständlich in den Digitalunterricht. Andere behandeln einzelne Schüler in Quarantäne wie Krankheitsfälle. Sie müssen sich Hausaufgaben und Unterrichtsmaterial selbst von den Klassenkameraden besorgen. Klassen in Quarantäne bekommen teils Arbeitsaufträge für eine Woche zugesandt, ohne weitere Kontakte zum Lehrpersonal.

All dies scheint offensichtlich im Einklang mit geltenden Vorgaben der Behörden zu stehen, denn es gibt keine klaren Leitplanken für das Vorgehen. Es ist daher nicht zielführend, einzelne Schulen für ihren Umgang mit der Situation an den Pranger zu stellen. Schulleitungen agieren in einem komplexen Geflecht unterschiedlicher Vorstellungen von Lehrern, Schülern und Eltern. Die Beteiligten stehen oft selbst unter Druck. Selbst innerhalb der einzelnen Gruppen unterscheiden sich die Vorstellungen.

Die Kultusministerien müssen klare Standards setzen

Umso wichtiger erscheint es, dass die Kultusministerien schnellstmöglich klare Standards für den Umgang mit Quarantäne setzen. Denn die Situation wird sich so schnell nicht entspannen - im Gegenteil. Zu erwarten ist, dass bei den hohen Inzidenzen kontinuierlich viele Schülerinnen und Schüler betroffen sein werden.

Im Kern muss es darum gehen, Schülerinnen und Schüler auch in Quarantänezeiten digital in den Unterricht einzubeziehen, über Lernplattformen und durch digitale Zuschaltung. Dies dürfte aufgrund der Digitalisierung, die die Schulen im Zuge der Pandemie erfahren haben, flächendeckend umsetzbar sein. Es sollte die klare Vorgabe geben, dass Schülerinnen und Schüler in Quarantäne online per Videoverbindung zum Unterricht zugeschaltet werden. Sie sind in der Regel nicht krank und können so dem Unterricht folgen. Wo die digitale Zuschaltung noch nicht möglich ist, sollte dies schnell realisiert werden - sowohl in der Schule als auch bei allen Kindern und Jugendlichen zuhause. Zur Bereitstellung von Materialien können die mittlerweile bestehenden Lernplattformen genutzt werden, so dass auch Schülerinnen und Schüler in Quarantäne direkten Zugriff auf die Unterrichtsmaterialien haben.

Kinder und Jugendliche aus benachteiligten sozialen Verhältnissen und solche mit Lernrückständen sollten darüber hinaus in der Quarantäne intensiver betreut werden. Dafür wird Personal benötigt, das sie am Nachmittag zusätzlich unterstützt, damit sie nicht weiter hinter den aktuellen Leistungsstand der Klasse zurückfallen. Hier sollte von staatlicher Seite eine Kraftanstrengung unternommen werden, um kurzfristig zusätzliche Personalmittel bereitzustellen.

Muss ein ganzer Klassenverband in Quarantäne, so sollte der Unterricht online weitergeführt werden. Die Ausstattung der Schulen mit digitalen Endgeräten dürfte es der Lehrkraft erlauben, den Unterricht zum Beispiel aus dem Klassenzimmer heraus anzubieten. Die digitale Teilnahme am Unterricht würde für alle zudem deutlich erleichtert, wenn endlich in allen Bundesländern - am besten bundeseinheitlich - klar geregelt wird, welche Videokonferenzanwendungen die Schulen rechtssicher und datenschutzkonform nutzen können.

In seinem Urteil zur Corona-Notbremse hat das Bundesverfassungsgericht Ende November 2021 en passant ein "Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung" begründet. Nicht zuletzt aus diesem Grund sollten die Verantwortlichen auf allen Ebenen Sorge tragen, im Rahmen der nun an allen Schulen bestehenden Möglichkeiten wirklich allen Schülerinnen und Schülern dauerhaft eine Teilhabe am Unterricht zu ermöglichen. Dies zu unterlassen, schadet nicht nur den Betroffenen und bedeutet einen weiteren Rückschritt für die Bildungsgerechtigkeit. Es schwächt die Resilienz unserer Gesellschaft und schadet uns allen.

Veronika Grimm ist Professorin für Wirtschaftstheorie an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Ludger Wößmann leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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