Süddeutsche Zeitung

Schöner arbeiten:Mein großer grüner Schreibtisch

Lesezeit: 3 min

Wenn wegen Corona sowieso immer weniger Leute ins Büro müssen - warum dann nicht gleich dort arbeiten, wo die Aussicht viel schöner ist? Quer durch Europa entstehen immer mehr Co-Working-Angebote auf dem Land.

Von Silke Wichert

Viele kannten die Spezies nur vom Hörensagen. "Digital Nomads" wurden sie genannt, weil sie ständig unterwegs waren und praktisch von überall aus arbeiten konnten, wenn es dort schnelles Internet gab. Nur die Möchtegern-Nomaden saßen bei Starbucks, die echten verbrachten Monate auf Bali oder Teneriffa, programmierten, handelten, bloggten unter Palmen und gingen zwischendurch surfen. Andere nisteten sich gleich in Städten wie Lissabon oder Palma ein, mit angenehmem Klima und guter Fluganbindung. An all den Spanplatten-Schreibtischen in Bürogebäuden mit Blick auf die Ausfallstraße hasste man diese modernen Menschen ein bisschen.

Aber dann kam Corona, ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung wurde kurzerhand ins Home-Office geschickt, und nicht alle fanden das Küchentisch-Exil so schlimm wie befürchtet. Im Gegenteil, der Radius des "Heim"-Arbeitsplatzes wurde mit Smartphone und Laptop nach und nach ein bisschen großzügiger ausgelegt. Wie bei einer Hauskatze, die sich mit jedem Tag traut, mehr auszubüxen. Warum den Arbeitsplatz dann nicht gleich ganz woanders hinverlegen? Und statt zum Ballungszentrum rein einfach umgekehrt raus ins Grüne pendeln?

Nachdem Co-Working, also das Teilen von Arbeitsraum in professionell betriebenen Büroflächen, sich in Städten schon länger etabliert hat, entstehen nun auch auf dem Land immer mehr solcher Angebote. Im beschaulichen Hertfordshire hat gerade Birch eröffnet. Ein frisch renoviertes, todschickes Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert mitten in der Natur, aber nur 30 Minuten von London entfernt. Birch funktioniert einerseits wie ein Hotel, soll aber vor allem eine "Community" sein, in der plötzlich von der Büroleine gelassene Großstädter im Wechsel arbeiten und durchatmen können.

Mitglieder finden im "Hub" voll ausgestattete Schreibtische, in den Pausen können sie kostenlose Töpferkurse belegen oder in der hauseigenen Bäckerei Brot backen. (Vor allem natürlich soll die Aussicht auf 20 Hektar Land deutlich attraktiver als die Londoner City sein.) Die einmalige Aufnahmegebühr kostet 200 Pfund, der monatliche Beitrag 120 Pfund. Ein Haufen Stylisten, Eventmanager und Designer arbeite bereits von dort aus, berichtete kürzlich die britische Vogue, und fragte, ob das neue "Greendesking" dem ollen Büroplatz nun endgültig den Garaus machen werde.

Zumindest gibt es auch in Deutschland bereits zahlreiche Orte für die neuen Landarbeiter, etwa Coconat auf einem riesigen Gutshof in Bad Belzig, eine Stunde von Berlin gelegen. Ein "Workation Retreat", wie es die Organisatoren selbst nennen, also eine Mischform aus Arbeiten und Urlaub auf dem Land, inklusive Bienenvolk, Kräutergarten, Yoga- und Massageraum auf dem Gelände. Schon vor Corona hätten sie mehr Anfragen als Plätze gehabt, heißt es von Coconat, auch seit der Wiedereröffnung Mitte August sei man voll gebucht. Plätze sind hier ab 50 Euro pro Monat zu haben, gearbeitet werden kann drinnen oder an rustikalen Holztischen draußen, es gibt zahlreiche Meeting-Räume, Hängematten und die "gute Stube", für die Mittagspause oder den Austausch mit anderen.

Das soll Co-Worken schließlich auch bringen: dass Selbständige oder Satelliten-Arbeiter nicht vereinsamen und im besten Fall sogar nützliche Kontakte knüpfen. Weitere "grüne Schreibtische" finden sich im Denkerhaus am Ammersee, das Netzwerk CoWorkLand organisiert deutschlandweit Pop-Ups und zeitgleich begrenzte "CoWorkation Retreats". Mit Anglizismen fühlt man sich wohl auch auf dem Land gleich viel moderner.

Damit die Beschäftigten von heute nicht nur ständig mit dem Internet, sondern sich auch mal wieder richtig mit der Natur "connecten", residiert seit 2013 Sende in einem nordspanischen Zwanzig-Seelen-Bergdorf. Nach der Arbeit kann man in einsame Seen eintauchen, stundenlang wandern, serviert wird dazu gesundes Essen mit lokalen Zutaten. Ein Monat hier kostet 448 Euro.

Besser also, das Einkommen ist groß genug, damit der Arbeitsplatz am Ende nicht teurer ist als das, was dabei herumkommt. Die Nachfrage ist trotzdem groß: Demnächst eröffnet die zweite Sende-Dependance in Portugal, außerdem kann sich auf der Webseite jeder einen Leitfaden herunterladen, um sein eigenes ländliches Co-Working irgendwo aufzuziehen. Ganz neu etwa ist Rooral, das im Oktober zum ersten Mal drei Wochen lang in ein altes Landhaus nach Artieda, in der Provinz Saragossa, einlädt. Was den Großstädtern ein Stück weit die Natur zurückbringt, soll umgekehrt halbverlassenen Dörfern wieder eine Perspektive geben.

So romantisch, sinnvoll und produktiv das alles klingt - Retreats sind natürlich eher etwas für Alleinstehende oder als punktueller Workshop für Gruppen geeignet. Für Eltern, die jetzt zwar theoretisch von überall aus arbeiten können, aber weniger nomadische, schulpflichtige Kinder haben, bleibt nur das Pendeln zu einem grünen Schreibtisch in der Nähe. Oder das gelegentliche Mitnehmen der Kinder, wenn mit all der neuen, grenzenlosen Flexibilität auch mal am Wochenende gearbeitet werden muss. Bei Birch in Hertfordshire gibt es für Kinder samstags Waldschule, außerdem einen Kunstraum und Spielezimmer. Ach ja, im Grünen könnten sie natürlich, während ein Elternteil arbeitet, auch einfach draußen sein, auf Bäume klettern, toben und so.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5041353
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.