Süddeutsche Zeitung

Regenwetter:Wir sind gespannt

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Der Herbst ist gekommen. Es nieselt, prasselt, gießt in Strömen - was für ein Vergnügen. Aber nur, wenn man den richtigen Regenschirm dabei hat.

Von Gerhard Matzig

Der Münchner Marienplatz ist nicht gerade die Londoner Winkelgasse. Man befindet sich also auch nicht im Harry-Potter-Universum voller Zauberer und Hexen. Und Meinrad Aumiller ist auch nicht Mr. Ollivander, der in der Winkelgasse die erste Adresse für Zauberstäbe aller Art markiert. Aber Mr. Aumiller, 54 Jahre alt und ein Bild, wenn nicht ein Berg von einem Mann, gehört trotzdem irgendwie zum Personal einer verwunschenen, entrückten und herrlich sonderbaren Welt. Vielleicht liegt das daran, dass er inmitten seiner "na, so an die tausend Schirme" wirkt (und zwar auf eng bestückten 24 Quadratmetern), als könne er sich wie der Winkelgassenollivander an jeden einzelnen Regenschirm erinnern, der in seinem Laden "Schirme im Rathaus" in den letzten 35 Jahren über die Theke gegangen ist.

Hinter der Theke ist übrigens ein Foto von einem hübschen Mädchen mit Schirm, passend zur Lederjacke und zur getönten Brille. Darauf steht: "Kuß Lucy xxx". Das ist der Gruß von einem deutschen Spicegirl - Lucy von den No Angels. 2001 sorgte Aumiller dafür, dass sie es hübsch trocken hatten in München. Und schon damals war er der letzte reine "Schirmtandler" (Aumiller) Münchens.

Die Schirmherr-Branche, muss man sagen, boomt mindestens so wie das Zauberstabgeschäft oder der deutsche Girlism-Pop. Also gar nicht. Es geht sogar rasant abwärts. Woran die elenden Muggel mit ihrem Hang zu billigen Wegwerfschirmen einerseits und der Klimawandel andererseits schuld sind. Aber zur Misere und zur Aumillerschen Schnürlregen-Sehnsucht kommen wir noch früh genug.

Man sucht doch immer jemanden, der einen nicht im Regen stehen lässt

Jedenfalls haben Schirme und Zauberstäbe gemeinsam, dass sie sich ihren Partner selbst aussuchen. Nicht umgekehrt. Man muss füreinander bestimmt sein. Der richtige Schirm, das ist ein Schicksal wie der richtige Zauberstab. Oder wie der richtige Ehepartner. Wobei nicht sehr viele Ehen wenigstens zwei Jahre Garantie haben. Die Aumiller-Zauberschirme aber mindestens, "und ein richtig guter Schirm, der geht eh nicht kaputt, der geht höchstens dahin".

Genau das will ich: eine Freundschaft fürs Leben, jemanden, der mich nicht im Herbstniesel stehen lässt. Der Reporter ist also auf der Suche nach dem perfekten Schirm. Nach einem Schirm, der nicht so verhext ist, dass er ständig in der U-Bahn oder in der Tram verloren geht; nach einem Schirm, der nicht so schnell kaputt ist wie die Schirme, die man sich für 2,69 Euro beim Discounter besorgt (im Einkauf kosten sie 40 Cent, aus China) und die man schon deshalb so gern irgendwo liegen lässt. Denn was nichts kostet, ist ja auch nichts wert. Man liebt es nicht. Schirme soll man aber lieben. Oder aber man geht mit einem Menschen, den man liebt (und der auch gern ein Dackel oder eine Prinzessin sein kann), im Regen unter einem schönen Schirm spazieren. Schön ist das. Klasse hat das. Gut sieht man dabei aus, richtig gut - mit dem richtigen Schirm.

Aber es regnet ja nicht. Also so richtig, so bindfadenmäßig und tagelang. Vor allem aber: vorhersehbar. "Weil", sagt der Schirmherr vom Marienplatz, "weil der verdammte Klimawandel nur für Starkregen sorgt. Der kommt plötzlich - und hört plötzlich auf. Und die Leute gehen nicht raus. Und kaufen auch keinen Schirm, und wenn doch, dann den, wo ,Made in China' und irgendein absurder Cent-Preis draufsteht. Qualität zählt nicht mehr." Das klingt nicht übellaunig, das klingt kämpferisch. Und so als Suada klingt es fast ein bisschen wie ein herrlicherweise niemals enden wollender Salzburger Schnürlregen, der endlich mal wieder in München zu Besuch ist. Er kommt aber nicht mehr, sagt Aumiller, "ungefähr seit 15 Jahren". Genau wie Lucy übrigens. Lucy wünscht man sich sehr dringend herbei. Als Tief, nicht als Girl.

Aumiller erwartet den Reporter bereits vor seinem Laden. Dabei guckt er grimmig in den Himmel, der an diesem Herbsttag so seidig blau vor sich hinleuchtet, als käme er direkt aus Thomas Manns München-leuchtete-Novelle "Gladius Dei" oder wenigstens frisch aus der Reinigung. Kein Wölkchen, nirgends. Kaiserwetter. Beziehungsweise der reinste Horror. Aumiller ist der einzige Mensch, für den der Blick in einen wolkenlosen Himmel gleichbedeutend ist mit einem Blick in den satanischen Abgrund.

Dennoch mustert er jetzt aufmerksam den Reporter, als nähme er Maß, dann wühlt er sich, aber nur ansatzweise, durch seine Schirmwelt. Stockschirme gibt es ("hmja"), Klappschirme ("naaa"), Schirme zum Umhängen ("auf keinen Fall"); es gibt schwarze und schreiend farbige Schirme, solche aus Holz und solche mit Silberknauf, welche mit Nylon und sogar welche mit Seide. Zehn Euro kostet der billigste Schirm und ein paar Hunderter kann man auch investieren. Aumiller greift sich ein Modell ("kommt aus Niederbayern, aus Simbach"), nennt den Preis (60 Euro) und sagt: "Das ist ihr Schirm." Widerstand ist zwecklos.

Der Schirm sucht seinen Mann. Nicht umgekehrt. Schicksal eben. Und ich wurde erwählt von einem hübschen Mittelklasse-Modell aus Simbach, Stockschirm, Kastanie, Nylon, Anthrazit, Hahnentrittmuster. Dezent. Robust. Mittelhinreißend. Man wünschte sich nur, es würde jetzt mal bitte ein paar Monate lang am Stück regnen. Dann hätte man noch etwas Zeit, um rilkemäßig in den Alleen hin und her zu wandern, unruhig natürlich - wenn die Blätter treiben. Denn dann ist es windig. Man hat ja einen biegsamen Schirm, dessen Gestell aus Fiberglas extrem windaffin ist, "Güteklasse eins". So würde man zum Gentleman heranreifen, mit Schirm, Charme aber vermutlich doch ohne Melone. Womöglich in einer niederbayerischen Variante und vielleicht auch ein bisschen wie Mary Poppins, die große Schirmherrin der Sehnsüchte.

Der Held aus "Kingsman" wählt als Waffe natürlich einen Schirm. Das hat Klasse

Oder doch wie in dem Film "Kingsman". In dieser grandiosen und grandios britischen Hommage auf das so elegante wie souveräne Agenten-Leben soll unser angemessen gekleideter Held die vom Schurken im Verlies gefangen gehaltene Prinzessin befreien. Yes, in der Tat, das mache er sehr gerne, nur müsse er zuvor noch kurz die Welt retten. "Wenn du die Welt rettest", sagt die Prinzessin daraufhin, "kriegst du einen Kuss und darfst mich sogar . . . umarmen" (wobei "umarmen" eine familienfreundliche, aber nicht annähernd korrekte, weil nicht annähernd korrekt erotomanische Übersetzung des Autors darstellt). Beschwingt, ja förmlich erregt bis fiebernd erwartungsfroh zieht der heroische Gentleman mit erotomanischen Neigungen in den Kampf um die Welt.

Zuvor aber muss er eine Waffe wählen. Zur Auswahl stehen: Flammenwerfer, Blendgranaten, Schnellfeuerwaffen, panzerbrechende Geschosse, Messer, Beile, Äxte - und ein Regenschirm. Er wählt den Schirm. Der kann schießen und ist kugelsicher. So gewinnt unser Gentleman den Kampf um die Welt, vernichtet alle Schurken und darf die Prinzessin . . . Ende. Die Moral der Geschichte: Es ist der Schirm, der den Unterschied macht. Im Film heißt das sinngemäß so: Als Gentleman wird man nicht geboren. Man erarbeitet sich das. Und überlegen fühlt man sich nicht anderen Menschen, sondern seinem früheren Ich.

Mein früheres Ich verlegte ständig seine 2,69-Klapp-Würde in der U-Bahn oder in der Tram. Dann stieg es aus. Und kaufte sich beim Discounter, an der Tanke oder beim Drogeriehändler bei Gelegenheit eine neue billige Klapp-Würde. Oder der Schirm ging nach zweimal Regen und viermal Klappen entzwei. Jetzt aber gehen wir nicht mehr so schnell kaputt, wenn überhaupt, so gehen wir dahin - made in Simbach und ich. Und ich bin meinem früheren Ich so dermaßen überlegen, dass mir zum höchsten Glück eigentlich nur noch die Prinzessin, ein Versprechen und ein paar schlecht angezogene Schurken fehlen. Und ganz allgemein der Schnürlregen, der nicht nur in der Lage ist, die Welt zu retten - sondern bitte auch den letzten Schirmtandler aus der Zauberwelt am Marienplatz in München.

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Quelle:
SZ vom 08.10.2016
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