Süddeutsche Zeitung

Pirelli-Kalender:Das Jahr wird nackt

Lesezeit: 6 min

Berühmte Models, angesehene Fotografen, dazu die künstliche Verknappung: Der Pirelli-Kalender gilt seit 51 Jahren als Objekt der Begierde. Und, auch wenn kein einziger Autoreifen darin zu sehen ist, als riesige Marketingmaschine.

Von Michael Neudecker

Das neue Jahrtausend haben sie im Pirelli-Kalender eröffnet mit Brüsten und Ärschen im Halbdunklen, und niemand hat sich darüber aufgeregt. Aber 2013, als weder Brust noch Arsch zu sehen waren, weil der Fotograf lieber Frauen abbildete, die sich für humanitäre Zwecke engagierten - da also druckte die FAZ eines der züchtigen Fotos aus dem Kalender auf ihrer Titelseite (ja!), dazu die Überschrift: "Thema verfehlt". Entrüstung, Entsetzen landauf, landab, der Literaturkritiker Hellmuth Karasek schrieb im Abendblatt, es sei nun "wieder eine Festung der Männerfantasien geschleift worden", die taz beschwerte sich tatsächlich, niemand wolle "Wichsvorlagen mit Hirn".

Entschuldigung?

Es geht hier also um einen Kalender, der gerade wieder unter das VIP-Volk gebracht wird, in dem seit jeher Frauen in erotischen Posen und seit 1972 barbusig abgebildet sind. Es geht um: den Pin-up-Kalender eines Reifenherstellers. Aber der Pirelli-Kalender ist halt mehr als das, nicht wahr?

Wenn du im Kalender bist, hast du's geschafft

Ein Marketinginstrument, das gewiss, allerdings eines, dessen Berühmtheit nur vom Gourmetführer der brancheninternen Konkurrenz von Michelin erreicht wird. Es gibt den Kalender inzwischen schon seit 1964, das Konzept ist ein einfacher Dreisatz aus berühmten Models / berühmten Fotografen / sexy Fotos. Hinzu kommt die künstliche Verknappung, der Kalender wird nicht verkauft, wurde er noch nie. Er wird zugewiesen: treuen Kunden, guten Freunden und Geschäftspartnern der Firma, eben wichtigen Menschen überall auf der Welt. Die Auflage für 2015 liegt nach offiziellen Angaben bei gerade mal 17 000 Stück, die Verknappung führte schon früh zu einer eigenartigen Gier der Konsumenten. Die Kalendermacher berichteten "von Bestechungsversuchen mit Antiquitäten, Baumkuchen und leckerem Lachs", schrieb der Spiegel 1974.

Wichtig sei außerdem die Freiheit, sagt Firmenchef Marco Tronchetti Provera: Fotografen wie Models seien "total frei", sie könnten sich ästhetisch so verwirklichen, wie sie möchten, auf Kosten von Pirelli selbstredend. Das klingt auf unerhörte Weise übertrieben, aber wenn man sich die Ausgaben der vergangenen 50 Jahre ansieht, muss man zu dem Schluss kommen, dass der Mann recht hat: Frauen in grünen Badeanzügen vor Christbäumen; eine Blondine beim Zähneputzen; eine entblößte Kurzhaarige mit Strapsen, sich eine Cola-Dose vor die Scham haltend; schwarz-weiß fotografierte Nackte bei derart eigenartigen leichtathletischen Übungen, dass es Leni Riefenstahl eine wahre Freude gewesen wäre. Reifen, irgendwo? "Es geht beim Kalender nicht darum, ein Produkt zu verkaufen", sagt Tronchetti Provera, ach so.

"Die Heiße Kartoffel 2015"

Der Bayerische Bauernverband hat vor ein paar Wochen seinen diesjährigen Kalender vorgestellt, Titel: "Die Heiße Kartoffel 2015", nackte Schönheiten räkeln sich im Kartoffelmeer, und ja, es gibt auch anderes Kalendermaterial, die Feuerwehrfrauen seien da herausgegriffen, erhältlich für 17,90 Euro ohne Versand. Aber alles nur: billiger Abklatsch. Der Pirelli-Kalender heißt in der Kalender- und Modeszene "The Cal", denn es gibt nur einen.

Für die Edition 2015 hat die New Yorker Fotografen-Ikone Steven Meisel Elite-Models wie Karen Elson, Adriana Lima und Natalia Vodianova, aber auch Newcomer wie die Deutsche Anna Ewers und die Amerikanerin Gigi Hadid in Lack und Leder abgelichtet. Entstanden ist wenig Kunst und viel Porno; Entrüstungspotenzial: null. Das Shooting war in New York, und nun haben sie den neuen Kalender in Mailand der Weltöffentlichkeit vorgestellt.

Drei Tage lang.

Kochen mit Eva Herzigová

Am ersten Tag: Interviewrunden im Luxushotel. Das Model Sasha Luss trägt ein ärmelloses Kleid und einen Glitzer-Haarreif, das Model Gigi Hadid trägt eine Lederjacke und darunter nur einen BH, das Model Isabeli Fontana jubelt affektiert, als um sechs die letzte Journalistengruppe vor ihr steht, nach doch schon über vier Stunden Reden.

Am zweiten Tag: die offizielle Kalenderpressekonferenz im Hauptquartier, mit Ex-Model Sophie Dahl als Moderatorin. Am Abend die Gala, Dresscode: Black Tie.

Am dritten Tag: ein Koch-Event mit Eva Herzigová im Museum.

Das sei doch unglaublich, raunt ein Model-Agent am dritten Tag halb bewundernd, halb erschüttert, wie gut es der Reifenbranche offensichtlich gehe.

Auf der Bühne des Palazzo Reale rühren da gerade drei Spitzenköche in Töpfen herum, begleitet von der noch immer zauberhaften Eva Herzigová, im Saal sämtliche lokale Prominenz, der Bürgermeister von Mailand und natürlich Signore Tronchetti Provera. Nach der Kocherei eröffnen sie die Ausstellung im Palazzo Reale, noch bis Februar zeigt das ja nicht ganz unbedeutende Mailänder Museum "besondere Stücke aus dem Kalender", wie der Kurator sagt. Draußen hängen die Plakate des Ausstellungsprogramms, in dieser Reihenfolge: Chagall, van Gogh, Segantini, Pirelli.

Wenn du im Kalender bist, hast du's geschafft, das ist ein Gesetz in der Modewelt, und in den vergangenen Jahrzehnten sind ja auch einige Kunstwerke entstanden, mit namhaften Models und anderen Berühmtheiten, Naomi Campbell, Kate Moss, Sophia Loren, fotografiert von Karl Lagerfeld, Peter Lindbergh, Helmut Newton, und so weiter. Jeder Fotograf, sagt Jimmy Moffat, der Agent des pressescheuen Steven Meisel, würde vieles dafür geben, ein Mal den Pirelli-Kalender machen zu dürfen. Kein PR-Gerede, ähnliche Zitate sind auch von anderen überliefert, auch von denen, die es noch nicht geschafft haben.

Warum nur?

Zwei Gründe, sagt ein Model-Agent aus New York, erstens: die Elite-Sache. Zweitens: "Der Cal ist eine PR-Maschine." In Mailand verbringen mehr als hundert Journalisten aus Russland, Japan, China, Amerika und anderen Ecken drei unvergessliche Tage, an denen es gar nicht so einfach ist, sich ständig ins Gedächtnis zu rufen, dass der Gastgeber Gummireifen herstellt.

Ufos, Tänzer, strahlender Kohl

Die Gala findet statt im "Hangar Bicocca", einer Halle auf dem Werksgelände, die ein Museum für zeitgenössische Kunst ist. Im vergangenen Jahr, zum 50. Jubiläum, sind sie alle gekommen, die Agnellis, Pradas, der Hollywood-Schauspieler Kevin Spacey, die Loren, Jahr 51 ist in dieser Hinsicht ein Durchhängerjahr. Das Essen ist selbstverständlich vorzüglich, der Abend ansonsten aber ein bisschen absurd.

Der ganze Saal ist in Schwarz gehalten, wohl, weil Schwarz die Firmenfarbe ist, vielleicht aber auch, weil die überwältigende Dunkelheit die Chance für hübsche Effekte eröffnet. Zwischen Vorspeise und Hauptspeise fliegen Lichtringe umher, Ufos, von Schnüren gezogen, die man überhaupt nicht sieht, später turnen Tänzer mit Laserschwertern über die Bühne, Tänzerinnen klettern die Videoleinwand hoch. Überall stehen antike Säulen, die Tische sind mit Granatäpfeln und Tomaten dekoriert, vor allem mit großen Kohlköpfen; zumeist wird der Saal mit Schwarzlicht, nun ja, ausgeleuchtet. Der Kohl strahlt.

Als Moderator war eigentlich Hugh Grant vorgesehen, der aber war kurzfristig unpässlich, also wurde dessen Hollywood-Kollege Adrien Brody engagiert. Brody, berühmt geworden im Film "Der Pianist", ist neben den Models der Star des Abends, stets begleitet von Bodyguards, lasziv tanzenden Unbekannten und bisweilen von Marco Tronchetti Provera.

In einem seinerwenigen Interviews sehr spätabends an der Bar sagt Brody einer Reporterin, er trage einen schwarzen Anzug von Dolce & Gabbana, womit er sich einfügt in das Gesamtbild der Männer. Die Models? Gigi Hadid trägt ein mit glitzernden Blumen besticktes Kleid, dessen Ausschnitt mühevoll von ein paar Stoffresten zusammengehalten wird, Isabeli Fontana trägt ein sehr figurbetontes Oberteil, dazu einen Rock mit einer Schleppe, für die ihr das Raumreinigungsteam später dankbar ist.

Marco Tronchetti Provera trägt einen schwarzen Smoking, auch sonst sieht der 64-jährige Firmenchef so aus, wie man sich einen 64-jährigen Firmenchef in Italien vorstellt: elegant gekleidet, das graue Haar mafiös nach hinten frisiert, an seiner Seite die hübsche Ehefrau, die über 50 ist und aussieht wie unter 40, dazu die hübsche Tochter, die von Unwissenden zeitweise für die hübsche Freundin gehalten wird.

Kurz vor Mitternacht, gleich nach dem Dessert und einem Adrien-Brody-Scherz über benutztes Latex, eröffnet ein italienischer Joe Cocker ohne Haare den Partyteil. Er singt "My Girl", so herzergreifend, das Mikrofon ist sein Liebesspielzeug, er müht sich sehr, doch es gelingt ihm nur zeitweise, den Eindruck zu zerstreuen, Pirelli habe ihn bei einem Kreuzfahrt-Preisausschreiben gewonnen.

"Great" sagt Adrien Brody bald darauf unvermittelt, "really great" und "good night", er geht dann ein Getränk bestellen.

Es verhalte sich mit dem Kalender wie mit James Bond, sagt an Tag eins Sasha Luss, Model aus Russland und Miss August 2015, man frage sich ständig: Was kommt als Nächstes? Sie reißt die Augen weit auf, sie ist begeistert.

Der Vatikan soll 1966 eingegriffen haben

Sasha Luss trägt auf dem August-Blatt nur eine Matrosenkappe, ein weißes Latex-Höschen und eine Art Schuh-Strumpf aus Latex. Sex und Schönheit sind, grob gesagt, das Thema der 2015er-Ausgabe, Latex überall, nackte Haut, als Kulisse nur eine Leinwand. So ähnlich war das auch schon früher, es heißt, der Vatikan habe vor lauter Sex und Schönheit 1966 eingegriffen und nachhaltig empfohlen, das sein zu lassen mit dem Kalender, weshalb es 1967 keine Ausgabe gab. Schwer zu sagen, ob das Wahrheit ist oder Legende, ist aber auch egal, denn es ist ja so: Mythen entstehen nur im Umfeld von etwas Großem.

Dem Kalender eine tiefere gesellschaftliche Relevanz zuzusprechen wäre zu viel, beachtlich ist aber doch, dass nun in der Amerikanerin Candice Huffine, Kleidergröße 42, erstmals ein sogenanntes Plus-Size-Model dabei ist. So gesehen, sagt das Model Karen Elson, sei der Kalender ein Statement: "Er zeigt, wie unterschiedlich Frauen sind", ebendies könne sich nun endlich in den Köpfen der Betrachter manifestieren, Pirelli sei Dank.

Aber hey, es ist "the Cal"

Candice Huffine ist auch am dritten Tag noch da, als im Palazzo Reale gekocht wird. Eva Herzigová, die Köche und der Chef der im kommenden Jahr in Mailand stattfindenden Expo reden in einem fort, natürlich Italienisch. Candice Huffine sagt immer wieder "amazing", sonst nichts. Sie kann kein Italienisch. Ihr Manager steht im Publikum, schüttelt den Kopf, das hier, sagt er, sei das abgefahrenste Event, auf dem er je gewesen sei, und bitte, er sei wirklich schon auf vielen Events gewesen.

Aber hey, sagt der Manager, alles cool, "it's the Cal".

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Quelle:
SZ vom 29.11.2014
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