Süddeutsche Zeitung

Kunst:Wald und Wiese im Wohnzimmer

Lesezeit: 2 min

Die Teppiche einer argentinischen Künstlerin erinnern an malerische Waldlandschaften. So, als ob jemand echte Moos- und Wiesenstücke aneinandergesetzt hätte.

Von Julia Rothhaas

Alexandra Kehayoglou fragt sich oft, was Oma und Opa wohl zu ihrer Arbeit sagen würden. Schließlich waren die beiden auch Teppichknüpfer, und gerne würde die junge Frau ihnen erzählen, dass sie die Familientradition fortführt. Auf ihre eigene Art. Doch die Großeltern hat sie nie kennengelernt.

Die 34-jährige Argentinierin gehört zu den derzeit spannendsten Künstlern, die sich mit Wolle beschäftigen. Sie knüpft Teppiche, die an üppige Landschaften erinnern, durch die Flüsse rauschen und Pfade wie durch Wälder führen. Die dicken Büschel wirken dabei in ihrer unterschiedlichen Dichte und Höhe so, als ob jemand echte Moos- und Wiesenstücke aneinandergesetzt hätte. Es sind verspielte Welten, die bei aller Leichtigkeit aber auch auf die Bedrohung sensibler Landstriche aufmerksam machen sollen.

Lebendig werden die Teppiche durch das Anfassen und Beschmutzen

"Wir fühlen uns selten direkt angesprochen, wenn es zu Naturkatastrophen kommt", sagt Kehayoglou. "Wir denken, irgendjemand wird es schon richten. Dabei stehen wir genau davor und wollen bloß nicht hingucken." In der Nähe ihres Elternhauses habe es etwa einen Bach gegeben, ein magischer Ort mit Fischen und Blumen und einer Ruhe, die sie als Kind berührt habe. Doch dann wurde gebaut, das Abwasser floss durch den Bach, er sei heute nicht mehr wiederzuerkennen. "Der Teppich soll, im übertragenen Sinne, an das erinnern, was da mal war." Als reine Kunstobjekte sieht sie ihre Werke aber nicht, sie sind als Metapher gedacht, um der Natur wieder näherzukommen. "Ich will den Spieß umdrehen: Lebendig werden sie erst durch das Anfassen und Beschmutzen."

Dass Kehayoglou ausgerechnet Vorleger als Überbringer für ihre Botschaft gewählt hat, sei dabei nur logisch, "der Teppich und ich haben eine genetische Verbindung." Gemeint sind die Großeltern, die nach dem Griechisch-Türkischen Krieg mit dem Webrahmen im Gepäck aus der heutigen Türkei nach Argentinien flohen und dort eine Firma gründeten, "El Espartano", heute einer der größten Teppichhersteller des Landes. Alexandra Kehayoglou wurde mit der Gewissheit groß, eines Tages in den Familienbetrieb einzusteigen. Stattdessen verblüffte sie ihre Eltern mit einem Kunststudium, begann danach in verschiedenen Abteilungen der Firma zu jobben und mit Wollresten und der Handtuftmaschine zu experimentieren.

Die Fertigstellung eines Teppichs dauert mehrere Monate

Entstanden sind so ihre "pastizales", Teppichbilder der Pampas, der argentinischen Grassteppe. Um die zum Teil raumgroßen Flächen fertigen zu können, arbeiten Alexandra Kehayoglou und ihr zehnköpfiges Team im Stehen. Die Leinwand dafür hängt in ihrem Studio in Olivos, einem Vorort im Großraum Buenos Aires, an einem Gerüst von der Decke. Die Wolle wird dann von hinten mit der Maschine durch das Gewebe geschoben.

Diese Technik erfordert jede Menge Konzentration, Kraft und vor allem Genauigkeit. Denn jeder Stich nimmt auf der anderen Seite gleich Gestalt an, auch wenn die Wollgarben anschließend mit der Schere noch bearbeitet werden. "Work in progress", im wahrsten Sinne des Wortes, denn Kehayoglou folgt keinem Muster. "Ich erstelle zwar eine Zeichnung und bearbeite sie noch mal auf dem Computer, aber es ändert sich immer alles."

Mehrere Monate dauert es, so einen Teppich fertigzustellen. Nur einmal musste es schneller gehen: 2014 beauftragte sie der belgische Modedesigner Dries Van Noten, in vier Wochen einen 50 Meter langen Teppich für seinen Laufsteg zu knüpfen, auf dem es sich die Models nach der Show gemütlich machten. Ganz wortwörtlich verknüpft Alexandra Kehayoglou heute also das Erbe ihrer Großeltern mit ihrer künstlerischen Botschaft. Denn die Wolle für ihre Teppiche ist ein Überbleibsel aus der elterlichen Produktion.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3242373
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.11.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.