Süddeutsche Zeitung

Das Geheimnis:Seitenweise Mysterien

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Nackte Frauen in Bottichen, seltsame Pflanzen und unbekannte Zeichen: Das Voynich-Manuskript in der Bibliothek der Yale University versetzt die Betrachter in Staunen. Lesen kann es bis heute keiner.

Von Nicolas Freund

Anfang des 20. Jahrhunderts machte der Büchersammler Wilfried Michael Voynich eine merkwürdige Entdeckung. Auf der Suche nach seltenen Werken für sein Antiquariat in London stieß er in einem Jesuitenkolleg in Italien auf eine Handschrift, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das in einen unbetitelten, unscheinbaren beigen Umschlag gebundene Manuskript war in einer Schrift verfasst, die er aus keinem anderen Buch des Mittelalters oder der Renaissance kannte. Fast jede Seite war illustriert, die meisten mit großen, farbigen Darstellungen verschiedener Pflanzen, viele mit Diagrammen, die astronomische Beobachtungen oder Tierkreiszeichen darstellen könnten, wieder andere mit nackten Frauen in Bottichen. Voynich erwarb das Manuskript von den Jesuiten, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befanden und deshalb Teile ihrer Bibliothek auflösten. Nach seinem Entdecker ist das geheimnisvolle Buch als das Voynich-Manuskript bekannt geworden.

Handelt es sich bei dem Geschriebenen wirklich um eine fremde Sprache? Keiner weiß es

Für den Rest seines Lebens übte das Werk große Faszination auf den Sammler aus. Einerseits, weil er sich von dem möglichen Weiterverkauf viel Geld versprach, andererseits, weil er wollte, dass es jemandem gelänge, den unverständlichen Text zu entziffern. Denn bis heute ist noch nicht einmal klar, ob es sich bei dem Text um einen Code handelt oder um eine unbekannte Sprache - geschweige denn, wovon er handelt.

Schon das Alphabet gibt Rätsel auf: viele der verwendeten Zeichen kommen in mehreren Varianten vor; es lassen sich zwar Wörter identifizieren, oft ähneln sich diese jedoch stark; teilweise folgt mehrmals dasselbe Wort aufeinander. Die merkwürdige Häufung bestimmter Zeichen und Wörter sowie das Fehlen von Satzzeichen spricht dafür, dass das Buch in einer Geheimschrift geschrieben wurde und keine natürliche Sprache ist. Diese Codes waren im Italien der Renaissance sehr verbreitet, als es galt, zwischen den unzähligen Stadtstaaten und am Hofe, wo überall Konkurrenten lauerten, Nachrichten sicher verschicken zu können. Tatsächlich weisen einige Zeichen des im Voynich-Manuskript verwendeten Alphabets Ähnlichkeiten zu typischen in solchen Renaissance-Codes verwendeten Symbolen auf.

Auch die Illustrationen liefern keine Anhaltspunkte, sondern werfen nur noch weitere Fragen auf. Die meisten der dargestellten Pflanzen konnten bisher nicht identifiziert werden, teilweise scheint es sich bei den Zeichnungen um Mischungen aus mehreren Pflanzen oder um Erfindungen zu handeln. Besonders rätselhaft ist eine ausklappbare Seite, die neun detailliert mit Gebäuden und verschiedenen Konstruktionen illustrierte, über Röhren und Abflüsse miteinander verbundene Kreise zeigt. Auch zu den bizarren Zeichnungen von nackt badenden und häufig mit Schläuchen hantierenden Frauen existiert keine Erklärung. Es könnte sich um abstrakte gynäkologische Darstellungen handeln oder einfach um eine besonders raffinierte Spielerei.

Es gab über die Jahre viele Theorie über den Text: Von in winzigen Details der Buchstaben versteckten Geheimschriften bis zu mehrstufigen Chiffrierungen, in denen er verfasst sein sollte. Aber auch ein Team von Kryptografieexperten, die im Zweiten Weltkrieg für die amerikanische Armee gearbeitet hatten, kam zu keiner Lösung des Rätsels.

Wissenschaftler schlugen die Möglichkeit vor, es könne sich um eine natürliche, vielleicht fernöstliche Sprache handeln, die lediglich in einem erfundenen Alphabet aufgeschrieben wurde. Tatsächlich zeigten statistische linguistische Untersuchungen, dass die Wort- und Buchstabenverhältnisse auf eine natürliche Sprache hinweisen - trotz der eigenartigen Häufungen.

Eine weitere Theorie ist, dass Voynich das Manuskript gefälscht hat, um es teuer zu verkaufen. Eine Radiokarbondatierung vor wenigen Jahren kam aber zu dem Ergebnis, dass das Buch aus dem 15. Jahrhundert stammen muss. Außerdem soll in einem Brief eines Prager Gelehrten aus dem 16. Jahrhundert das Manuskript erwähnt werden. Er bittet darin um Hilfe bei der Entschlüsselung. Voynich selbst wollte in dem Buch einen Brief aus dem Jahre 1666 gefunden haben, indem das Werk dem Franziskanermönch Roger Bacon zugeschrieben wird. Vermutlich Unsinn, aber ein weiterer Hinweis, dass der Text nicht im 20. Jahrhundert entstand und keine Fälschung ist.

Nein, ein Gelehrtenscherz ist dieses Buch wohl nicht, dazu ist es viel zu aufwendig hergestellt

Voynich starb 1930, ohne einen Käufer für das Buch gefunden zu haben. Nach seinem Tod ging es durch mehrere Hände, bis es in der Bibliothek der Yale University landete, wo es sich bis heute befindet.

Auch die Möglichkeit, es könnte sich bei dem Voynich-Manuskript schlicht um den Scherz eines spätmittelalterlichen Gelehrten handeln, wurde schnell verworfen: ein ganzes Buch herzustellen, war zu dieser Zeit sehr teuer und zeitaufwendig. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass so viele Ressourcen in einen derben Witz mit Buchumfang investiert wurden.

In den letzten Jahren setzte sich unter Experten die Meinung durch, dass es sich bei dem Manuskript um ein alchemistisches Handbuch handeln müsste. Die Pflanzen sprechen dafür, auch die Darstellungen, die an die Temperamenten- und Säftelehre der damaligen Mediziner denken lassen. Die Frauen könnten ein Hinweis sein, dass es in den Rezepten um Abtreibungs- oder Verhütungsmittel geht - das wäre auch ein Grund, ein solches Buch in einem Code oder einer Geheimsprache zu verfassen, um seinen Inhalt vor den Augen der Kirche zu schützen. Eine plausible Theorie - doch auch sie macht den Text noch immer nicht lesbar. Das Voynich-Manuskript ist heute noch so rätselhaft wie am Tag seiner Entdeckung.

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SZ vom 23.01.2016
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