Süddeutsche Zeitung

Guerilla Gardening:Wer sät, wird ernten

Lesezeit: 4 min

Maurice Maggi fand seine Heimat Zürich zu grau. Deshalb streut er seit 35 Jahren Blumensamen auf Grünstreifen und Verkehrsinseln.

Von Julia Rothhaas

Der heiße Sommer hat den Stockrosen zugesetzt, nur vereinzelt leuchtet es am Zürcher Limmatquai noch in Lila, Rosa und Pink. Für Laien mag das Quadrat um die Bäume am Straßenrand Anfang August etwas traurig aussehen: ausgebleichte Stängel, braunes Gras, welke Blätter. Für Maurice Maggi ist es ein Geschenk. Während die Autos an ihm vorbeirauschen, zwickt der 64-Jährige die gelbbraunen Kapseln der Stockrosen ab, die im Volksmund Malven genannt werden, öffnet sie und schüttelt die kleinen braunen Samen in seinen Stoffbeutel. Die Passanten, die dem Mann mit dem Hut und dem bunt gestreiften Hemd zusehen, sehen irritiert aus. Was will der Typ bloß mit dem Unkraut?

Was sie nicht ahnen: Ohne ihn würde es keine einzige Malve in ganz Zürich geben, zumindest nicht außerhalb der Gärten und Parks. Denn Maurice Maggi hat sie gesät: mitten in der Stadt, in Ritzen und Nischen, auf Verkehrsinseln und Kiesflächen, um Bäume und Laternen, unter Bänken und Büschen. Seit 35 Jahren wird er nicht müde, Zürich alljährlich mit bunten Blumen aufzuhübschen. Inzwischen wirbt Zürich-Tourismus sogar mit seinen Malven, sie sind zu einer Art symbolischer Stadtblume geworden, einem Zeichen moderner Urbanität. Selbst auf Architekturzeichnungen von Bauprojekten tauchen sie auf.

Die Malve ist am Straßenrand nicht allein: Wegwarte, Schafgarbe, Spitzwegerich, Wilde Möhre, Fenchel, Distel, Wiesensalbei, Labkraut, Klee - um die 50 verschiedenen Sorten Samen hat Maurice Maggi in seinem Stoffbeutel, den er immer bei sich trägt. Manche hat er dazugekauft, andere bekommt er von Menschen geschickt, die seine Arbeit unterstützen, die meisten liest er selbst auf. Von März bis Oktober greift er bei jedem Spaziergang in seine Tasche und verstreut die Mischung dort, wo etwas Bunt der Stadt guttut. Die Samen hat er so ausgewählt, dass es im besten Fall von Mai bis Ende September blüht. Eigentlich hält er nichts von Regeln, aber ein bisschen Ordnung hat er dem Chaos trotzdem gegeben: Einheimisch müssen die Pflanzen sein, die er aussucht. Und gesät wird nur im öffentlichen Raum.

Manche Samen wirft er bewusst in bestimmten Vierteln aus. Im Wiedikon, einem Quartier mit vielen jüdischen Bewohnern, hat er viel Meerrettich gepflanzt, weil er weiß, dass zum traditionellen Gericht "gefilte Fisch" gerne eine Vinaigrette aus Rote Beete und dem Abrieb dieser Wurzel gereicht wird. Und Gewürzfenchel im Sihlfeld für tamilische Familien verstreut, der eine besondere Rolle in deren Küche einnimmt.

Als er damit anfing, hatte noch niemand je etwas von Urban Gardening gehört

Und warum der Aufwand? Seine Stadt war ihm schlichtweg zu grau, damals 1984, als er noch als Gärtner arbeitete. Außerdem fand er es stumpfsinnig, dass er und seine Kollegen jeden Juni das Unkraut um die Bäume entfernen mussten, die die Stadtverwaltung entlang der Straßenzüge hatte pflanzen lassen. Als er in einem Garten auf ein Beet voll abgeblühter Stockrosen stieß, las er die Samen ab und fing an, sie zu verstreuen. "Ich wollte wissen, wie die Stadt reagiert, wenn auf den Grünflächen keine Wildpflanze, sondern eine verwilderte Kulturpflanze wächst", sagt Maggi. Die Malve wird schon mal 1,50 Meter groß, sie abzuschneiden fällt dann schwer.

Die ersten Blumensamen streute er vor seiner Haustür und entlang seiner täglichen Wege, außerdem vor den Häusern seiner Freunde, damit sie etwas haben, über das sie sich freuen konnten auf dem Weg in die Arbeit. Und siehe da, im Frühjahr blühte es, die Gärtner ließen die Malven stehen, gemäht wurde drumherum. Die Lokalzeitungen wunderten sich über die Kraft der Natur, die sich so plötzlich ihren Raum zurückerobert. Erst Jahre später erfuhr Maggi, dass das Gartenbauamt damals viele Anrufe bekam von Bürgern, die sich für die tolle Aktion bedankten.

Wer die Blumen pflanzte, wusste jedoch lange niemand. Sein Geheimnis, schließlich verstieß er, der Gärtner, damit gegen das Pflegekonzept der Stadt, die normalerweise im Juni alles abschneiden lässt, was wild wächst. Seither packt "Malven-Maurice", wie er längst genannt wird, jeden Frühling seinen Pflanzenbeutel und geht ausgiebig spazieren.

Maggi ist ein Stadtmensch, der die Malve sogar bis nach New York geschmuggelt hat

Heute sind die Großstädte voll mit Hochbeeten, Bienenkästen, Insektenhotels und vertikalen Gärten. Als er anfing, hatte man von "Seedbombs" oder "Guerilla Gardening" jedoch noch nie gehört. "Vor 30 Jahren musste ich eine halbe Stunde lang erklären, warum das, was ich mache, so wichtig ist", sagt Maggi. Unter dem Namen "Blumen-Graffiti" hätten es die Leute schneller kapiert, inzwischen ist er nicht mehr allein mit seinem grünen Daumen. Der Zeitgeist hat ihn eingeholt, es gibt immer mehr Nachahmer. "Ich sehe sofort, welche Pflanzen nicht von mir sind. Manche Sorten habe ich gar nicht in meinem Sortiment", sagt Maggi. Je mehr, desto besser, findet er - schließlich arbeite man ja für dasselbe.

Dasselbe bedeutet: Die Städte sollen sorgfältiger umgehen mit ihren Räumen, so seine Forderung. Jede Versiegelung muss begründet werden, zu viel Pflegeaufwand darf 2019 kein Argument mehr sein gegen das Grün. Schließlich sind Blumen und Pflanzen nicht nur hübsch anzusehen, sie bieten Tieren aller Art Lebensraum, sorgen für saubere Luft und wirken sich auf das Gemüt der Menschen aus. Man könnte viel erreichen mit wenig Aufwand, da ist er sich sicher. Wenn man es nicht so verhunzt wie die neu gestaltete Europaallee, unweit des Hauptbahnhofs. Beton, Glas, Metall auf 78 000 Quadratmetern: Das Projekt sollte zum Sinnbild einer modernen Stadt werden, stattdessen hagelte es Protest und Kritik. Nun überlege man, als Wiedergutmachung Töpfe mit Malven aufzustellen, erzählt Maggi. "Wird nicht funktionieren, Malven sind Tiefwurzler."

Auf die Idee, Zürich zu verlassen, ist er nie gekommen. "Ich bin ein Stadtmensch, auf dem Land hat es mir nicht gefallen." Der Idealist, der die Malve schon bis nach New York schmuggelte, um sie dort zu verstreuen, ist angenehm bescheiden. Sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet ihm nichts. Er macht einfach das, was er für richtig hält. Und freut sich, wenn er Menschen auf der Straße sieht, die sich Samen von den Malven ziehen für daheim. Nach all den Jahren erstaunt ihn allerdings immer noch, wie wenig Blumen gepflückt werden. "Dabei hätte ich nichts dagegen, ist ja kollektives Eigentum."

Bis Oktober wird Maurice Maggi mit seinem weißen Baumwollsäckchen durch Zürich ziehen, dann geht es in die Winterpause. Ans Aufhören denkt er nicht mal, vom Säen bekommt er nicht genug. "Solange ich mich bewegen kann, werden in Zürich Malven wachsen."

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Quelle:
SZ vom 07.09.2019
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