Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Zwei Erben für Hingsen

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Die deutsche Leichtathletik hat wieder zwei exzellente Zehnkämpfer: Niklas Kaul, Weltmeister von 2019, wird gerade vom 22-jährigen Leo Neugebauer herausgefordert.

Von Ulrich Hartmann, Ratingen

Manchmal fühlen sich Sportler wie im falschen Film. Wer wüsste das besser als ein zur disziplinarischen Vielfalt verdonnerter Zehnkämpfer, Niklas Kaul zum Beispiel. Selbst als Weltmeister 2019 und Europameister 2022 ist er nie gefeit vor Enttäuschungen in einzelnen Disziplinen. Am Sonntag im rheinischen Ratingen, wo er das traditionsreiche Mehrkampf-Meeting gewonnen und sich mit 8484 Punkten für Olympia 2024 qualifiziert hat, misslangen ihm der Stabhochsprung und der Speerwurf derart, dass er hinterher von zwei "Vollkatastrophen" sprach. Wichtig ist, dass Zehnkämpfer immer wieder aus dem falschen in den richtigen Film zurückfinden. So wie Kaul. Da passt es gut, dass der 25-Jährige an diesem Mittwoch einer Jury angehört, die beim Sportfilmfest in Oberhausen im Ruhrgebiet den Siegerstreifen kürt.

Die deutsche Zehnkampflegende Jürgen Hingsen, 65, hat sogar mal eine Hauptrolle in einem Kinofilm gespielt, 1984 zusammen mit dem Gewichtheber Rolf Milser und dem Komiker Karl Dall. Man braucht über die maue Komödie "Drei und eine halbe Portion" kein Wort zu verlieren, Hingsens Qualitäten als Entertainer kommen sehr viel besser zur Geltung, wenn er vor Publikum über sich, den Zehnkampf und die Zukunft dieses Sports in Deutschland plaudert.

In Ratingen hat er vor 3900 Zuschauern in einer Wettkampfpause lakonisch erläutert, warum es ganz schön ungerecht ist, dass ihm der 22 Jahre alte Leo Neugebauer kürzlich um vier Punkte seinen 39 Jahre alten deutschen Zehnkampfrekord geraubt hat. "1984 in Mannheim mussten wir nämlich den Hochsprung vorzeitig abbrechen wegen Hagelkörnern so groß wie Äpfel - hätte ich damals mehr als die gewerteten 2,07 Meter geschafft, dann hätte ich meinen Rekord jetzt noch." Dann lachte er schallend ins Stadionmikro.

Leo wer? Jetzt weiß es Hingsen. Er hat ihm den deutschen Zehnkampfrekord geraubt

Der in Görlitz geborene und nahe Stuttgart aufgewachsene Leo Neugebauer überbot Hingsens deutschen Rekord von 1984 (8832 Punkte) vor zwei Wochen bei den US-Collegemeisterschaften in Austin/Texas um vier Punkte (8836). "Leo wer?", will Hingsen noch halb verschlafen am Telefon gefragt haben, als ihn ein Journalist an jenem frühen Donnerstagmorgen um ein Blitz-Statement bat. "Ich musste erst mal nachschauen, wer Leo Neugebauer ist", bekannte er nun lächelnd, "aber vor allem freue ich mich, dass wir jetzt zwei so starke Zehnkämpfer haben, das ist fantastisch; jetzt haben wir den Leo, und jetzt haben wir den Niklas."

Der Leo und der Niklas sind bereits vor einem Jahr bei der Weltmeisterschaft in Eugene Seite an Seite angetreten. Kaul wurde Sechster (8434 Punkte), Neugebauer Zehnter (8182). Beide werden auch in diesem Jahr am 25. und 26. August den Zehnkampf bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest absolvieren. Was da möglich ist, wurde Neugebauer jetzt in der "Sportschau" gefragt. "Da ist alles möglich!", hat er vielsagend geantwortet, aber mit einem Blick, der eindeutig verheißungsvoll war und nicht skeptisch.

Kaul berichtete nach seinem Sieg in Ratingen, dass ihm Neugebauers Monsterleistung in Texas enorm imponiert, sie ihn aber nicht groß beeinflusst habe. Weder gebremst noch motiviert also. In sieben der zehn Disziplinen war Kaul schlechter als Neugebauer vor zwei Wochen. Im Hochsprung (2,04 Meter) waren sie gleich, im Speerwurf und im abschließenden 1500-Meter-Lauf war Kaul besser. Trotzdem blieb er mit dem Speer (67,44) knapp elfeinhalb Meter unter seiner Bestleistung und über die 1500 Meter (4:14,19) etwa vier Sekunden drüber. Er hat also noch Luft nach oben, Er hat also noch Luft nach oben, so hält er es gerne vor großen Meisterschaften. Es wäre aus deutscher Sicht gewiss auch hilfreich, wenn sich die beiden in Budapest gegenseitig zu Bestleistungen anstacheln könnten.

Kaul hat sich jedenfalls gefreut über Neugebauers Rekord. Konkurrenz belebt das Geschäft. "Und ich freue mich auch, dass wir mit einem tollen Team nach Budapest fahren, ich glaube, so ein starkes Team hatten wir lange nicht mehr." Und dann sagt er noch etwas, das Jürgen Hingsen gefallen würde, dem ewigen Entertainer. Kaul sagt über die WM: "Das wird ein lustiger Wettkampf!"

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