Süddeutsche Zeitung

WM-Bilanz:Auf Augenhöhe mit Entwicklungsländern

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Mit dem schwächsten Ergebnis aller Weltmeisterschaften beendet der Deutsche Leichtathletik-Verband die Titelkämpfe von Paris.

Michael Gernandt

"Wir haben endlich wieder Siegertypen." Es ist gerade mal zwei Monate her, dass Rüdiger Nickel, Sportchef im deutschen Leichtathletik-Verband, sich derart erleichtert äußerte. Beim Europacupfinale in Florenz hatten fünf DLV-Athleten (Rath, Gesell, Nerius, Kumbernuss, Kobs) die Nase vorn gehabt - weil die Konkurrenz zu Hause für die WM übte. Was aus Nickels Einschätzung geworden ist beim Weltchampionat in St. Denis, kann deutlicher nicht geschildert werden als mit der Erkenntnis, den einzigen Sieg für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) am Grünen Tisch erstritten zu haben: die Rücknahme der Disqualifikation der Hürdenläuferin Meissner.

Auch andere Prognosen der Herren vom Verband überstanden den Neuntage-Wettkampf nicht. Nickel im Frühjahr: "Wir wollen das Ergebnis der WM 2001 überbieten:" Cheftrainer Bernd Schubert unmittelbar vor dem WM-Start: "Fünf bis acht Medaillen und 20 Endkampfplatzierungen sind möglich", man habe schließlich "einige Geheimtipps, Namen will ich nicht nennen:" Schließlich Verbandschef Clemens Prokop im März bei Halbzeit seiner Amtszeit: "Wir liegen einszunull vorn:"

In Wahrheit hat der DLV die deftigste Schlappe hinnehmen müssen; seit es Weltmeisterschaften gibt. Sein Ergebnis von Paris ist verheerend, für sein bereits angeschlagenes Image und für den deutschen Sport, dem er keinen guten Dienst erwies. Hier hat nicht irgendeine Disziplin in den Abgrund geschaut, sondern der deutsche Vertreter der olympischen Sportart Nr. 1. Sportbund-Präsident Richthofen meldete sich prompt. "Unerfreulich" fand er das DLV-Ergebnis und empfahl, sich an anderen Verbänden zu orientieren. Nickel versprach, mal "rü-ber zu schielen".

Der DLV verfehlte alle gesteckten Ziele. Die Bilanz in Zahlen: Aus maximal acht erhofften Medaillen (WM 2001: 7) wurden vier für Geher Erm, Stabhochspringerin Becker, Speerfwerfer Henry, Speerwerferin Nerius, aus 24 Finalplätzen von 2001 16, ein Drittel der Starter schied bereits in Runde eins aus, in weiteren fünf Wettbewerben kam das Aus im zweiten Durchgang. Nur neun (!) schafften Saisonbestleistungen.

In der Teamwertung, die den DLV ausschließlich interessiert, weil sie zu 30 Prozent den Etat für den Zeitraum 2005 bis 08 bestimmt, das Resultat der Punkte für die Ränge eins bis acht, betrug das Minus im Vergleich zu 2001 (104,5) 32,5 Punkte. Heraus komplimentiert wurde der DLV aus dem Kreis der großen Drei, im öffentlichkeitswirksamen Medaillenspiegel (Schubert: "Der steht bei uns nicht im Vordergrund") fiel der Absturz besonders eklatant aus - von Platz fünf auf 28, auf Augenhöhe mit vielen Entwicklungsländern.

So war denn der letzte Auftritt der DLV-Führung Sonntag morgen im WM-Klub am Bois de Boulogne beherrscht von Rat- und Ahnungslosigkeit. Aufgefallen ist, dass Cheftrainer Schubert wieder nicht erschienen war. Man müsse ja nicht mit der ganzen Abteilung Leistungssport anrücken, versuchte Ehrenamtler Nickel ("wir ziehen alle an einem Strang") zu erklären, wohl ahnend, dass sein wichtigster Hauptamtlicher in Erklärungsnot geraten wäre.

Denn eine Diskussion um die Frage, wer die Verantwortung zu tragen habe für das sich seit drei Jahren abzeichnende Desaster, eine Person oder das System, oder beides, hätte sich schwerpunktmäßig um den Oberplaner, den vom DDR-System angelernten Schubert gedreht. Ist er der Mann hinter der Fehleinschätzung schlechthin, der Verkennung des realen Leistungsverhältnisses zwischen Europa und Übersee? Rüdiger Nickel zur Wochenmitte: "Wir haben hier den Unterschied gemerkt".

Nein, den Eiertanz um Wahrheit und Lösung des Problems der deutschen Leichtathleten, die sie (noch) nicht kennen wollen, führten Verbandspräsident Prokop und Nickel auf. Immerhin wollte Nickel "die Augen nicht verschließen: Wir haben das Ziel nicht erreicht" und Prokop "nüchtern feststellen, unseren Anspruch nicht erreicht" zu haben.

Aber von einer Konsequenz sprachen beide nicht, Prokop nur von Alternativen: "Anspruch reduzieren oder prüfen, ob der Weg verbessert werden muss." Wohl an, eine Entscheidung fiel doch schon in Paris: "Wir wollen weiterhin die Nummer drei sein und nicht von der Förderung aller Disziplinen Abstand nehmen" (Prokop). Das System, der "ganze Strauß von Gründen, die zu bewerten sind" (Nickel), wird am 6. und 19. September in Kienbaum ins Gebet genommen. Personen auch? Prokop sibyllinisch: "Die Maßnahmen sind offen".

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