Süddeutsche Zeitung

Kampf ums Achtelfinale:Belgien attackiert Belgien

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In der "goldenen Generation" um Kevin De Bruyne herrscht ein offener Konflikt - mit verbalen Attacken, Beinahe-Handgreiflichkeiten und Drohungen gegen einen Maulwurf.

Von Sven Haist, al-Rayyan

An Temperament schien es den Belgiern eigentlich immer etwas zu fehlen. Obwohl das Nationalteam in der mittlerweile sechsjährigen Amtszeit des Trainers Roberto Martínez zwischenzeitlich für dreieinhalb Jahre die Weltrangliste anführte, reichte es bei den Länderturnieren nie für einen Titel. Dabei war den Belgiern immerzu die Rolle des Pechvogels zugedacht, sowohl bei der WM 2018 als auch bei der EM 2021 scheiterten sie knapp am späteren Sieger. Die bitteren Niederlagen im Halbfinale gegen Frankreich und im Viertelfinale gegen Italien ließen sich die Spieler seinerzeit kaum anmerken. Aufgrund ihres oft ausdruckslosen Gemütszustands wurde den Belgiern daher vorgehalten, in diesen Matches nicht bissig genug aufgetreten zu sein. Diesen Vorwurf kann man ihnen bei dieser WM wahrlich nicht machen. Sie sind angriffslustiger denn je - allerdings attackieren sie sich vorwiegend selbst.

Im bisherigen Turnierverlauf ist fast kein Tag vergangen, an dem es in Belgiens Nationalteam nicht geknirscht und geknarzt hat. Die Streitereien haben mittlerweile ein Ausmaß erreicht, dass sie selbst das letzte Gruppenspiel gegen Kroatien am Donnerstag überlagern, in dem es für beide Länder um den Einzug ins Achtelfinale geht. Zurückzuführen sind die Unstimmigkeiten hauptsächlich auf den Frust über die verpassten Gelegenheiten bei den vorherigen Turnieren. Der bricht sich nun Bahn, weil die Protagonisten der in der Heimat zu Recht als "goldene Generation" angesehenen Mannschaft realisieren, dass ihre Qualität nicht mehr ausreicht für einen letzten Versuch, einen großen Titel zu gewinnen.

Den Vorgang initiierte Kevin De Bruyne, Belgiens Vorzeigespieler. In einem vor dem Turnier geführten Interview mit der englischen Zeitung The Guardian - das nach Belgiens hart erkämpftem 1:0 zum Auftakt über Kanada publiziert wurde - sagte De Bruyne, das Team habe "keine Chance" auf den WM-Sieg, weil man "entscheidende Spieler" verloren habe und insgesamt "zu alt" sei. Zwar kämen "gute Akteure" nach, aber sie hätten nicht das Niveau ihrer abgetretenen Vorgänger. Kapitän Eden Hazard verschlimmerte die Situation, indem er dem harschen Urteil seines Mitspielers zustimmte. Die Kritik zielte offenkundig auf den hohen Altersschnitt der Startelf ab, der sich teils bei über 30 Jahren befindet - was mitunter an den Abwehrrecken Toby Alderweireld, 33, und Jan Vertonghen, 35, liegt. Beide sind die Erfahrung in Person. Nebeneinander haben sie in 364 Pflichtspielen für Verein (Tottenham Hotspur) und Nationalelf gespielt.

Für den Spieler, der Interna durchgestochen habe, sei es "der letzte Tag im Nationaltrikot" gewesen, droht Torwart Courtois

Der sichtlich verärgerte Vertonghen würzte die Debatte nach dem desolaten Auftritt beim 0:2 gegen Marokko in der Interviewzone mit reichlich Sarkasmus. In entsprechendem Tonfall verwies der Verteidiger darauf, die schlechte Angriffsleistung in diesem Match hänge sicher damit zusammen, dass die Stürmer ebenfalls "zu alt" seien: "Das muss der Grund sein, nicht wahr?" Einen weiteren Seitenhieb leistete sich Vertonghen gegenüber Torwart Courtois, der zwei Freistoßflankengegentore kassierte, wobei eines wegen Abseits zurückgenommen wurde. Der Ball dürfe jeweils auf diese Art "niemals" ins Tor gehen, fand er. Courtois selbst sah den Fehler beim "unnötigen Foul" des Außenverteidigers Thomas Meunier.

Vor den Schuldzuweisungen soll es bereits in der Kabine zwischen Vertonghen und den Offensivprofis De Bruyne und Hazard zu einer unschönen verbalen Auseinandersetzung gekommen sein. Erst im letzten Moment konnte Romelu Lukaku etwaige Handgreiflichkeiten verhindern. Dass dieser Vorfall umgehend an die Öffentlichkeit getragen wurde, erzürnte Courtois massiv. Auf der Pressekonferenz vor dem Kroatien-Spiel drohte er, dass es für denjenigen Spieler, der die Interna an die Medien durchgestochen habe, "der letzte Tag im Nationaltrikot" gewesen sei. Hazard versuchte derweil, die Zwistigkeiten herunterzuspielen, indem er witzelte, er würde sich mit dem "größeren" Vertonghen sowieso nie anlegen.

Einen Knatsch in dieser Ausprägung kannte man in der Vergangenheit eigentlich bloß aus Frankreich - oder dem Quartier der Engländer, wo die Spieler sich wegen ihrer Klubressentiments regelmäßig in ständiger Abneigung gegenüberstanden. Aber von den handzahmen Belgiern?

Die Entstehung des Konflikts reicht weit zurück, der Grund ist in der Führungsschwäche des Teams zu suchen. Mit dem Karriereende des Kapitäns Vincent Kompany sowie dem Rückzug des ähnlich beliebten Marouane Fellaini verlor Belgien sukzessive nach der WM 2018 sein Rückgrat. Die Führungsrolle konnte bis heute niemand gleichwertig ausfüllen, weder Hazard, Courtois, Vertonghen, De Bruyne oder Lukaku, die an sich das Gerüst der Mannschaft bilden sollten. Sie spielen mehr oder weniger seit acht Jahren zusammen und sind im belgischen Nationalteam, nun ja, gemeinsam alt geworden. Dies wäre nicht allzu schlimm, wenn sich aus ihrer weiter vorhandenen Klasse eine Erfolg versprechende Spielstruktur ergeben würde.

De Bruynes gefürchtete Steilpässe finden keine Abnehmer

Doch durch die Schnelligkeitsdefizite in der Abwehr ist einerseits ein Forechecking kaum möglich. Andererseits kann Trainer Martínez die Elf auch nicht auf Konter ausrichten, weil es an Antrittstempo in der Offensive mangelt. Am meisten betroffen von diesem Problem ist Spielmacher De Bruyne, dessen gefürchteten Steilpässe keine Abnehmer finden. Seine Verbitterung darüber drückte er nun aus.

Im Vergleich zu den Duellen mit den aufsässigen Kanadiern und Marokkanern erwartet die Belgier in den Kroaten immerhin ein Gegner, der ihnen mehr entgegenkommen dürfte. Der WM-Zweite von 2018 hat seine beste Zeit vermutlich ebenso hinter sich. Zudem deutet die kontrollierte Spielanlage um Taktgeber Luka Modrić an, dass die Partie mehr über Taktik als über Physis entschieden werden könnte. Dies würde den alternden Belgiern helfen - sofern sie ihr Temperament diesmal auf dem Platz zeigen.

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