Süddeutsche Zeitung

WM 2010: Deutschland - Ghana:Irritiert in den Klassiker

Lesezeit: 4 min

Lahm hält eine Regierungserklärung, Schweinsteiger humpelt zum Bus, Löw spricht von wichtigen Erfahrungen: Nach dem 1:0 gegen Ghana blickt das DFB-Team voller Sorgen und mit gebremster Zuversicht auf das Achtelfinale gegen England.

Thomas Hummel, Johannesburg

Philipp Lahm kam mit Abstand als Erster aus der Kabine, er stellte sich zum ersten Pulk deutscher Reporter und legte los. Der 26-jährige Kapitän sprach schnell, aber klar, er wirkte angespannt, aber es war nichts mehr zu spüren von dem lieben Jüngling Philipp Lahm, der er kürzlich noch war. "Wir haben in einigen Phasen richtig Glück gehabt", die Mannschaft habe viel zu viele Torchancen zugelassen, "sogar klare Torchancen". Vorne hätten die jungen Spieler viel zu häufig den Ball verloren, "vielleicht war der eine oder andere heute ein bisschen nervös".

Es war eine Regierungserklärung des Münchner Außenverteidigers, der seit der Verletzung von Michael Ballack der jüngste Kapitän einer deutschen WM-Delegation ist. Gerade Lahm hatte in den Tagen zuvor betont, wie sehr er an diese Gruppe glaube, von der besten Nationalmannschaft gesprochen, in der je gespielt habe, und trotz der Niederlage gegen Serbien erklärt, dass es überhaupt keine Zweifel am Weiterkommen gebe. Obwohl ein historisches Vorrundenaus drohte, werde die Mannschaft diese Situation meistern und das letzte Gruppenspiel gegen Ghana souverän gewinnen. Seine Zuhörer waren regelrecht angesteckt worden von dieser Zuversicht. Doch die 93 Minuten in Johannesburgs Soccer City hatten Lahm verändert. Und nicht nur ihn.

Die Fakten bestätigten hinterher zwar den Optimismus, denn Deutschland besiegte Ghana in Soccer City durch Mesut Özils wunderschönen 18-Meter-Schuss in den Winkel mit 1:0 und beendet die Vorrundengruppe D deshalb als Erster. Doch das Spiel führte zu erheblichen Irritationen.

Mertesackers Probleme

"Wir hatten einige Probleme", gestand Bundestrainer Joachim Löw. Probleme etwa in der Abwehr mit dem wieder einmal desorientierten Per Mertesacker, dem mehrfach die Bälle zum Gegner sprangen und der trotz seiner 1,96 Meter entscheidende Kopfballduelle verlor. Zweimal mussten Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm in der Abwehrzentrale einschreiten, um freistehende Ghanaer im letzten Moment zu blocken. Der Bremer Innenverteidiger wirkte später sichtlich erschöpft: Er freue sich über das Weiterkommen, "aber gedämpft". Es wäre nicht verwunderlich gewesen, hätte er in der folgenden Nacht lange über seinen Auftritt gegrübelt.

Die Abwehr kam aber auch deshalb in Bedrängnis, weil in der Offensive viele Pässe den Gegner erreichten, und vor allem der sogenannte letzte Pass vor einem möglichen Torabschluss einfach nicht ankommen wollte. So kamen die wuchtigen Afrikaner zu den erhofften Konterszenen, zeigten dabei aber wieder die bekannte Schwäche im Abschluss. Ghana zieht zwar als Gruppenzweiter ebenso ins Achtelfinale ein, hat aber noch kein Tor aus dem Spiel heraus erzielt, sondern gegen Australien und Serbien lediglich zwei Elfmetertreffer.

Als nach etwa 70 Minuten aus dem vier Stunden entfernten Nelspruit die Kunde eintraf, dass Australien 2:0 führe, stellten die Ghaner trotz des Rückstands ihre Bemühungen ein. Das wäre ihnen am Ende zwar fast noch zum Verhängnis geworden, weil Serbien vehement auf den Ausgleich drängte, der Ghanas Aus bedeutet hätte. Doch als auf der Anzeigetafel Australiens 2:1-Sieg aufleuchtete, brach im Stadion ein Jubelsturm los.

Die Afrikaner feierten den Einzug ins Achtelfinale, in dem sie am Samstag auf die USA treffen. Die Deutschen hörten das Gebrüll und Vuvuzela-Getröte nur noch gedämpft, sie waren bereits in den Kabinengängen des Stadions verschwunden. Vielleicht haben sie sich auch ein wenig geärgert über ihren Gruppensieg, denn ihr Gegner heißt am Sonntag um 16 Uhr in Bloemfontein nun: England.

"Man kann sich die Gegner manchmal nicht aussuchen", kommentierte Thomas Müller und fügte etwas wehmütig an: "Die USA machen noch das Tor in der letzten Minute, sonst wäre es Slowenien geworden." Ganz wohl war einigen in dieser Nacht nicht in Anbetracht des bedeutungsschweren Klassikers. Auch Bastian Schweinsteiger gehörte dazu.

Dabei bangt der 25-Jährige sicher nicht wegen der Größe der Aufgabe. Sondern wegen des Zeitpunkts. Auf dem Weg zum Bus konnte der in der 81. Minute verletzungsbedingt ausgewechselte Schweinsteiger ein leichtes Humpeln nicht verbergen, er blickte stoisch und verschlossen nach unten. Er wirkte wie ein Kind, dem der strenge Vater gerade den Ball weggenommen hat. Ein DFB-Helfer wehrte die ungefähr 99 Fragen nach dem Befinden hektisch ab. Auch die Ärzte wollten zunächst nichts sagen. Erst Ko-Trainer Hans-Dieter Flick berichtete von einer Verhärtung der hinteren Oberschenkel-Muskulatur. Der Einsatz bei einem so wichtigen Fußballspiel in nur vier Tagen ist da sehr fraglich.

Schweinsteiger wie ein Gaul

Löw wusste während seiner Pressekonferenz noch nichts von der Diagnose, machte sich aber schon ernstlich Sorgen: "Sollte Schweinsteiger ausfallen, wäre das nicht gerade von Vorteil." Tatsächlich würde eine Verletzung des Münchners die DFB-Elf an einer neuralgischen Stelle treffen, nämlich im defensiven Mittelfeld. Weil sich bereits etliche Kandidaten für diese Position verletzt hatten (Ballack, Rolfes, Träsch), stellt der Kader für die beiden Planstellen eigentlich nur noch Schweinsteiger und Sami Khedira bereit.

Zuvor hatte Schweinsteiger seinen Wert für diese teils unerfahrene Mannschaft deutlich bewiesen. Während vorne der Ball oft leichtfertig verloren wurde, ackerte er dahinter wie ein Gaul, um ihn wieder zurückzuholen. Schon Mitte der zweiten Halbzeit ließ er allerdings merklich nach, dennoch kam seine Auswechslung spät. "Ich hoffe, dass er rechtzeitig rausgegangen ist", sagte Löw. Auch Jérôme Boatengs Auswechslung sei einer Wadenverletzung geschuldet gewesen.

Sollte mit Schweinsteiger einer der wenigen international kampferprobten Spieler gegen England ausfallen, rückt Philipp Lahms Mahnung wohl noch mehr ins Zentrum: "Irgendwann müssen die Spieler lernen, mit dem Druck umzugehen", forderte der in dieser Hinsicht gestählte Bayern-Profi und fügte die Hoffnung an, dass sie aus dem Ghana-Spiel "für das Achtelfinale etwas mitnehmen". Auch Bundestrainer Löw sprach davon, dass "einige heute vielleicht eine wichtige Erfahrung gemacht haben". Es seien viele dabei, die solch eine Drucksituation zum ersten Mal erlebt hätten. Die Hoffnung scheint das Einzige zu sein, was von der allgemeinen Zuversicht im DFB-Lager übrig geblieben ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.964690
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.