Süddeutsche Zeitung

Wales gegen England:England fürchtet das erneute Debakel

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Von Raphael Honigstein, Chantilly

Englands Medienabteilung hatte vor der Abfahrt nach Lens große Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten für die Position vor den Mikrofonen zu finden. Wayne Rooney, der Kapitän, und Torhüter Joe Hart, der eloquenteste Mann im Kader, fielen aus - das Duo musste für die offizielle Pressekonferenz und für Fernsehinterviews am Vorabend der Partie in Reserve gehalten werden.

Fast alle anderen Stammspieler hatten seit der Ankunft in Frankreich bereits geredet und konnten deswegen unmöglich schon wieder vom Reporterkorps belästigt werden; und dem einen oder anderen jungen Mitglied von Trainer Roy Hodgsons Reisegruppe traute der Verband insgeheim nicht zu, auf dem Podest unfallfrei zur komplexen sportpolitischen Lage Stellung zu nehmen: zur Ausschlussdrohung der Uefa, zur Bedrohung durch russische Hooligans und zum brisanten britisch-britischen Duell mit den Walisern an diesem Donnerstag.

Wales bohrt in der englischen Wunde

So kam es, dass am Ende der brave Liverpooler Außenstürmer Adam Lallana, 28, und der noch bravere Ersatz-Linksverteidiger Ryan Bertrand (26, FC Southampton) im Glaskasten des EM-Quartiers Les Fontaines, dem hübsch gelegenen Campus einer Unternehmensberatungsfirma, zu den Berichterstattern sprachen - und genau wie bestellt unheimlich brave, unverfängliche Dinge sagten: "Wir respektieren die Waliser als Mannschaft und werden überlegen, wie wir sie schlagen, aber sie werden auch über uns nachdenken und versuchen, uns aufzuhalten", ließ sich unter anderem Lallana entlocken.

Zwischen diese Plattitüden streute der Linksaußen ein paar nette Anekdoten aus der gemeinsamen Zeit mit Wales-Größe Gareth Bale in der Jugendakademie von Southampton ein ("Unsere Familien fuhren gemeinsam zu Auswärtsspielen, er war ein aufgewecktes Kerlchen"). Das klang eher nach Freundschaftsspiel als nach erbittertem Brüderkampf.

Eine echte, in historischen Schlachten gewachsene Fußballrivalität gibt es auch nicht zwischen beiden Ländern, dafür waren die in Frankreich zum ersten Mal seit 1958 an einem Turnier teilnehmenden Waliser aus Sicht der Engländer in der Neuzeit viel zu unbedeutend. Die jüngsten Sticheleien der Red Dragons ("Die Engländer reden sich stark, aber wir haben mehr Nationalstolz als sie", behauptete jüngst Bale) ignoriert Hodgsons Elf. Martialische, vom eigenen Anhang womöglich zu wörtlich verstandene Parolen kann sich England nach den schweren Ausschreitungen in Marseille rund um das 1:1 zum EM-Auftakt gegen Russland auch gar nicht leisten.

Team-Häuptling Rooney und Trainer Hodgson appellierten in Videoansprachen an die Fans, sich "vernünftig" zu verhalten und Konfrontationen aus dem Weg zu gehen, damit die Drohung der Uefa, die Engländer bei weiterer eskalierender Randale aus dem Turnier zu werfen, nicht in Erfüllung gehe. Der englische Löwe darf diesmal also nicht brüllen, er kommt mit Maulkorb ins Stadion in Lens.

Wales nutzt die Kleinlaut-Äußerungen des Gegners geschickt, um weiter unerwidert in dessen empfindlichster Wunde zu bohren: Mangelnder Patriotismus, zu wenig Blut und Tränen, kein Teamgeist - das sind ja die Vorwürfe, die auf der Insel seit fünfzig Jahren nach jedem verpatzten Turnier der englischen Auswahl hochkommen. "Ich habe nicht gesagt, dass sie keinen Stolz und keine Leidenschaft haben", befeuerte Bale die Debatte, "ich sage nur, dass Wales mehr davon hat. Ganz egal in welchem Sport: Wir Waliser hieven uns als Mannschaft stets auf ein höheres Niveau."

Der unausgesprochene Nebensatz lautete: Im Gegensatz zu den Engländern, die es fast immer schaffen, im Kollektiv schwächer aufzutreten, als es auf Grund der Fähigkeiten der Einzelspieler möglich zu sein scheint. "Von denen würde es keiner in unser Team schaffen", sagte Bale, 26, daher auch nur halb im Spaß.

Bale, der frisch gekürte Champions-League-Sieger mit Real Madrid, hat in seiner bisherigen Karriere noch nie etwas Aufsehenerregendes geschweige denn etwas Kontroverses geäußert, man darf also hinter seiner Provokation getrost Kalkül vermuten. Chris Coleman, der gerissene Trainer der Waliser, glaubt wohl, dass man als Kleiner den Großen am besten ärgert, wenn man ihm schon vor der Partie gehörig auf die Nerven geht.

Englands Furcht vor einem weiteren Turnierdebakel

Noch lasse England die Furcht vor einer Blamage im ersten Derby gegen die südwestlichen Nachbarn in einer Endrunde nicht an sich heran, war in Chantilly zu hören; Lallana lächelte kopfschüttelnd, als ein Journalist wissen wollte, ob man über die Gefahr, die von Bale ausgehe, auch mit dem Teampsychologen gesprochen habe. Je länger die auf Konter ausgerichteten, nach dem 2:1-Auftaktsieg gegen die Slowakei ohne Druck spielenden Waliser das 0:0 halten, desto größer wird sie jedoch werden: Englands Angst vor einem neuerlichen Turnier-Debakel.

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Quelle:
SZ vom 16.06.2016
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