Süddeutsche Zeitung

VfB Stuttgart:Willkommen im Problemkiez

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Nach dem 0:6 in Augsburg muss Sportchef Thomas Hitzlsperger seinen Grundsätzen untreu werden: Er ersetzt Markus Weinzierl durch Nico Willig - und folgt damit einer Elf, die ihres Trainers überdrüssig war.

Von Christof Kneer, Augsburg

Mit diesem fragwürdigen Anfall von Arbeitseifer konnte nun wirklich keiner rechnen. In der 65. Minute dieses, nun ja, Fußballspiels lief der Stuttgarter Mario Gomez plötzlich aggressiv den Torwart des FC Augsburg an, er setzte ihn so unter Druck, dass dem ein unsauberer Pass auf seinen Abwehrspieler rausrutschte, und schon war da der Stuttgarter Daniel Didavi, schnappte sich den Ball, lief ein, zwei Meter und schoss - knapp vorbei. Kurz darauf warfen sich Gomez und Didavi vergeblich, aber immerhin kopfüber in eine Flanke, das sah lustig aus, aber auch seltsam motiviert. Was war da plötzlich los?

Nicht auszudenken, wenn Stuttgart da getroffen hätte! Ob es vielleicht noch mal spannend geworden wäre? Es wäre immerhin das Tor zum - Moment, mal blättern, wie war gerade noch mal der Spielstand... ? - also, es wäre das Tor zum 1:5 gewesen.

Am Ende bezog dieses absurde Gastspiel des VfB Stuttgart von 1893 seine Spannung eher aus der Geschichte, aus Fragen wie: Würde es den VfB-Profis in der letzten halben Stunde noch gelingen, sich unsterblich zu machen? Würden sie es noch in den nächsten Jubiläums-Almanach dieses Traditionsvereins schaffen, als die Elf, die die höchste Liga-Niederlage der Klubgeschichte geschafft hatte? Es reichte nicht ganz. Diesem 0:6 in Augsburg stand am Ende ein 1:7 in Dortmund entgegen, herausgeholt in der Saison 1963/64. Die Macher des nächsten VfB-Almanachs könnten an diesem 0:6 aber wenigstens eine Fußnote anbringen, mit dieser Information: Dieser 6:0-Sieg des FC Augsburg war am Ende um zwei bis drei Tore zu niedrig ausgefallen.

Er habe "keine Argumente" für sich geliefert, sagte Stuttgarts Trainer Markus Weinzierl später. Das, lieber Trainer Weinzierl, kann man genau so sagen.

Gäbe es Spieler-spielen-gegen-den-Trainer-Ranglisten in der Bundesliga, dann würde dieses 0:6 wohl auf den vorderen Plätzen landen. Vor gut zehn Jahren haben sich die Spieler des HSV mal mit einer Niederlage in Hoffenheim von ihrem Trainer Labbadia befreit, das war noch grotesker damals, weil die HSV-Profis bei jeder Aktion entweder diskret aus dem Bild gingen oder lieber gleich dem Gegner den Ball hinspielten. Einen so massiven Vorwurf mochte den VfB-Spielern diesmal niemand machen, es war eher so eine Gesamtverzweiflung, die sich mit jedem nicht geführten Zweikampf und jedem gefangenen Gegentor immer mehr verselbstständigte, bis der Totalboykott eines Fußballspiels dabei herauskam. Aber natürlich wissen Profis schon auch, wie's läuft: Nach einem 0:2 oder auch 0:3 können sich Vorgesetzte immer noch hinstellen und den Wert von Kontinuität und Treue predigen.

Betreten ob ihrer Leistung: Die Stuttgarter Spieler nach dem 0:6 gegen Augsburg.

"Habe heute keine Argumente für mich geliefert": Markus Weinzierl mochte beim Blick auf die Anzeigetafel geahnt haben, dass seine Zeit in Stuttgart schon wieder abgelaufen sein wird.

6:0 - die VfB-Spieler stellten sich und ihrem Trainer ein desaströses Arbeitszeugnis aus.

Hat er schon einen Plan in der Tasche? Nico Willig, Trainer der hauseigenen U 19-Junioren, soll nun den VfB vor dem Abstieg retten.

Nach einem 0:6 - vor allem: nach so einem 0:6 - können sie das nicht mehr.

Am Morgen des Ostersonntags stand dann also schon ein Mensch namens Nico Willig mit den VfB-Profis auf dem Trainingsplatz, der bisherige Trainer der hauseigenen U 19-Junioren soll nun das tun, was Weinzierl von den eigenen Spielern offensichtlich nicht mehr zugetraut wurde: Willig, 38, soll auf den letzten Metern noch die Saison retten. Im Haus genießt Willig einen tadellosen Ruf, er unterweist in diesem traditionell jugendbewegten Klub die beste A-Jugend seit langem; seine Elf führt die Tabelle der A-Junioren Bundesliga Süd /Südwest an, und sie steht im Pokalfinale.

Er kenne Willig "seit einigen Jahren", hat Sportvorstand Thomas Hitzlsperger nach der Trainer-Entscheidung gesagt, er habe "einfach gespürt, wie Nico immer wieder seine Mannschaften auf den Punkt hinbekommt". Vom neuen Mann erhoffe er sich "mehr Emotionalität und mehr Offensivdenken", womit im Umkehrschluss auch die offensichtlichsten Vorwürfe gegen Weinzierl benannt waren, dessen Emotionalität sich auf den immergleichen Tonfall beschränkte, während sein Offensivdenken darin bestand, die besten und torgefährlichsten Spieler wie Daniel Didavi und Anastasios Donis auf der Bank zu lassen. Dafür hat er vorn meistens Alexander Esswein und Nicolas Gonzalez aufgestellt, fleißige Renner, die es allerdings als torungefährlichste VfB-Stürmer auch noch in den ewigen Almanach schaffen könnten.

Dass der VfB einen Trainer vor der Zeit entlässt, ist eher die Regel als die Ausnahme, dennoch steckt in der aktuellen Trennung auch eine neue Geschichte. Vollzogen wurde die Training von Thomas Hitzlsperger, einem jungen Chef, der als hoch integer gilt und sich trotz vieler Jahre in der Branche immer noch einen gewissen Idealismus bewahren will. Hitzlsperger will kein Hire & fire-Sportchef sein, er sagt "Kontinuität" nicht nur, er glaubt sogar daran; aber auch er hat jetzt schon feststellen müssen, mit wem er es da aufgenommen hat: mit dem VfB, einem der größten Problemkieze der Liga. Hitzlsperger hat den VfB mal zur Meisterschaft geschossen, aber nicht mal sein Status als kurvenamtlich zertifizierte Klublegende hat ihn davor bewahrt, erste Grausamkeiten begehen zu müssen. Kürzlich hat er den U 21-Trainer Marc Kienle entlassen, nun also Weinzierl. "Wenn Kontinuität eine Gefahr für den Erfolg des Vereins darstellt", sagt Hitzlsperger, müsse man "alles hinterfragen".

Kurioserweise hat Hitzlsperger nun mit Verspätung getan, was sein Vorgänger Michael Reschke schon viel früher tun wollte. Reschke hat Weinzierl im Herbst verpflichtet und dann aber bald und voller Reue gemerkt, dass es überhaupt nicht funktioniert zwischen dem Trainer und den Spielern, die sich deutlich mehr Anleitung gewünscht hätten. So votierte Reschke am 11. Februar nach dem 0:3 in Düsseldorf für einen Trainerwechsel, er kam bei dem ums Klub-Image besorgten Aufsichtsrat damit aber nicht durch und musste selber gehen.

Nun soll also Willig versuchen, mit einer befreiten Elf wenigstens den Relegationsplatz zu sichern, um im Sommer dann an einen neuen Trainer zu übergeben. Welche Kräfte ein Trainerwechsel freisetzen kann, haben die Stuttgarter übrigens gerade erlebt: Mit dem neuen Trainer Martin Schmidt gewann der FC Augsburg am Osterwochenende ein Ligaspiel mit 6:0.

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Quelle:
SZ vom 23.04.2019
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