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US-Fußball:Das kickende Startup verblüfft den Kontinent

Lesezeit: 4 min

Erstmals verfügen die USA nicht nur über einzelne Talente, sondern über eine ganze Generation hochveranlagter Profis. Mit dem 2:0-Sieg gegen den Rivalen Mexiko setzt sich die junge Nationalelf an die Spitze der WM-Qualifikationstabelle.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Spiegel können verzwickte Geräte sein: Man sieht sich selbst, so wie man wirklich ist - außer, der Spiegel ist verzerrt. Man sieht aber auch, wer neben oder vielleicht hinter einem steht. Was bedeutete es also, dass Christian Pulisic nach seinem schönen und vor allem wichtigen Kopfballtreffer für die US-Nationalelf gegen Mexiko beim Jubel sein Trikot hob und den Schriftzug "Man in the Mirror" enthüllte, der Mann im Spiegel? "Das hat mit Respekt zu tun", sagte Pulisic nach dem 2:0-Sieg, der das US-Team auf Platz eins der Qualifikationsgruppe zur WM in Katar katapultierte.

Es wird immer viel geredet vor solch wichtigen, emotional aufgeladenen Duellen. Mexikos Torwart Guillermo Ochoa hatte vor der Partie gesagt, dass seine Mannschaft der Spiegel sei, in dem sich die Amerikaner betrachten würden. Im Sport kann es als Beleidigung verstanden werden, wenn jemand dem Gleichwertigen mitteilt, dass der nur ein Nachahmer sei, der verlieren wird. Manche Fußballfatalisten, die auch im optimistischen amerikanischen Sport zu finden sind, hatten errechnet, dass die US-Elf bei einer Niederlage zur Hälfte der Qualifikation auf einen Platz abrutschen könnten, der ein Playoff-Duell zur Teilnahme am Turnier in Katar erfordern würde.

Die USA hatten als Austragungsort für dieses Partie Cincinnati gewählt, eine Stadt im Mittleren Westen, die nicht gerade bekannt ist für besonders viele Einwohner mexikanischer Herkunft. "Wir wollten für diese wichtige Partie ein Pro-USA-Publikum", erläuterte Trainer Gregg Berhalter offen. Was das bedeutete, war in der 69. Spielminute zu sehen. Bis dahin war es eine packende, hitzige, aber nicht unbedingt hochklassige Partie gewesen. Dann brachte Berhalter den Spieler, der den Unterschied machen kann in solchen Duellen: den ehemaligen Dortmunder Christian Pulisic, 23, vom FC Chelsea, der wegen langer Verletzungspause nicht von Beginn an hatte mitwirken sollen. Es war der Moment, der die Stimmung in Cincinnati veränderte.

Pulisic, Adams, McKennie: Den Schliff holt sich die junge Generation in Europa

Nur fünf Minuten später fiel der Treffer; kurz vor dem Ende erhöhte Weston McKennie auf 2:0. Nun sind die USA plötzlich Gruppenerster mit 14 Punkten, gleichauf mit Mexiko, sie liegen drei Punkte vor dem gefürchteten Playoff-Platz. Die Man-in-the-Mirror-Botschaft an Mexiko lautet: Schaut ihr mal lieber auf euch selbst! Die USA hatten jüngst schon zwei Finalsiege verbuchen können (Nations League und Gold Cup), jeweils gegen Mexiko: "Die beiden Pokale zuletzt haben offenbar nicht für Respekt gesorgt", sagte Berhalter: "Vielleicht respektieren sie uns jetzt ein bisschen mehr."

Es ist tatsächlich ein interessantes Konstrukt, das sie da gebaut haben im US-Fußball. Vier Jahrzehnte lang hatten US-Fußballfans dem vorausschauenden Größenwahn gefrönt und behauptet, in der Zukunft bei einer WM eine bedeutsame Rolle spielen zu können. Vor der WM 2014 wurde der damalige Trainer Jürgen Klinsmann geschmäht, weil er einen Triumph für unwahrscheinlich erklärt hatte. Den alten Schlachtruf "I believe that we will win" haben sie nun ins Motto "Only Forward" geändert: Nur nach vorn. Eine verständliche Aktion beim Blick in den Spiegel nach der blamabel verpassten Qualifikation für die WM 2018 in Russland.

Drei Dinge haben sie erkannt im US-Fußball, der sich nun als ein Startup begreift - also ein Unternehmen, das sich erst einmal etablieren muss. Erstens: Sie müssen Talente im Fußball anders ausbilden, als das in anderen Disziplinen üblich ist, wo Schulen, Unis und private Unternehmen die Aufgabe übernehmen und sich Profiklubs bei jährlichen Talentbörsen bedienen. Es gibt nun Jugendakademien wie in Europa. Der heutige Bundesligaprofi Tyler Adams zum Beispiel wurde in der Red Bulls Academy in New York gefördert, im Alter von 17 Jahren debütierte er in der US-Profiliga MLS, im Januar 2019 kam er zu RB Leipzig. Daraus leiten sich die Erkenntnisse zwei und drei ab: Die heimische Liga ist nur Sprungbrett für junge Amerikaner, mit denen sich die Zuschauer in den USA identifizieren können; ihretwegen interessieren sie sich für die MLS und füllen die Stadien. Und: Die wirklich großen Talente, die müssen nun mal nach Europa.

"Wir hatten noch nie so viele talentierte Spieler wie jetzt", sagt Trainer Berhalter

Für Europäer klingt das völlig normal: Ein Profiklub bildet ein Talent aus, das erste Profierfahrungen in der dritten Liga sammelt und dann Bundesligaspieler wird. Für Amerikaner war dieses System unerhört - doch sehen sie nun die ersten Früchte des Umdenkens: Pulisic spielt bei Chelsea in der Premiere League. Tim Weah, Vorlagengeber zum 1:0 gegen Mexiko, in Frankreich beim OSC Lille. 2:0-Schütze Weston McKennie ist bei Juventus Turin unter Vertrag, Verteidiger Chris Richards vom FC Bayern nach Hoffenheim ausgeliehen. Torwart Zach Steffen spielt bei Manchester City, Außenverteidiger DeAndre Yedlin bei Galatasaray Istanbul: Das sind allesamt angesehene Adressen in Europa.

Noch interessanter dürfte allerdings folgender Fakt sein: Der Altersschnitt derer, die gegen Mexiko von Beginn auf dem Feld waren, liegt bei 21,7 Jahren; Pulisic hob mit 23 den Schnitt tatsächlich an. Die besten US-Fußballer derzeit sind jung, und das macht den Amerikanern nicht nur Hoffnung auf die Qualifikation für die WM in Katar, sondern darauf, dass dieser Kader im Jahr 2026 seine volle Wirkung entfaltet. "Wir hatten noch nie so viele talentierte Spieler wie jetzt", sagt Berhalter: "Der Kader ist extrem jung, viele werden in fünf Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Karriere sein." Zum ersten Mal verfügt der US-Fußball nicht nur über einzelne Talente, sondern er hat tatsächlich eine ganze Generation davon.

Die USA werden diese Weltmeisterschaft 2026 als Gastgeber gemeinsam mit Mexiko und Kanada austragen. (Kanada liegt in der Qualifikationsgruppe derzeit mit 13 Punkten auf Platz drei). Das Ziel lautet aber natürlich, besser abzuschneiden als die Rivalen und Mitveranstalter. Die Botschaft, die Christian Pulisic am Freitagabend auf dem Hemd in die Welt trug, war aber diese: Sie wollen nur auf sich schauen - auf die eigenen Männer im Spiegel. Die Hoffnung besteht ja weiter. So viel Optimismus haben sie sich dann schon bewahrt, beim Finale 2026 in New York dabei zu sein.

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