Süddeutsche Zeitung

Turnen bei den European Championships:Propeller auf dem Rücken

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Kim Bui hat über rund zwei Jahrzehnte auf hohem Niveau geturnt. Ihre Stärke war der elegante und stabile Auftritt. Nun bleiben ihr noch zwei Wettkämpfe bei den Europameisterschaften.

Von Volker Kreisl, München

Es ist der Anfang vom Ende. Kim Bui turnt in der Qualifikation, die den Auftakt für ein langes erstes Wochenende dieser Europameisterschaft in der Olympiahalle bildet. Was passieren wird, ist wie immer im Turnen besonders ungewiss, was nach diesen drei Tagen folgt, steht aber fest: Kim Buis aktive Karriere wird dann vorbei sein.

Wie alle anderen Langzeitturnerinnen wünscht auch sie sich einen starken Abgang für diesen Lebensabschnitt, der sie geprägt hatte und vielleicht auch ihr späteres Berufsleben noch beeinflusst, wer weiß es schon. Doch darüber zu sprechen, ist jetzt viel zu früh, denn jetzt muss sie die Probleme der Gegenwart lösen, etwa die Frage: "Wie bekomme ich jetzt bloß diesen Holm zu fassen?"

Sie stammt aus Tübingen, von dort und vom Stützpunkt Stuttgart reisten auch etliche Bui-Fans nach München, um die letzte Akrobatik dieser Turnerin mitzuerleben. Aber Turnen ist eine Abfolge ständiger kritischer, zerbrechlicher Momente, wie er Bui nun zum Beispiel im Ablauf des Jägersaltos passierte. Das ist ein Standardelement am Stufenbarren, die Turnerin dreht eine Riesenfelge rückwärts um den Holm, sie löst sich, steigt hinauf, dreht einen gegrätschten Vorwärtssalto und sollte nun dieses Holz zu greifen kriegen, doch der ganze Plan drohte zu scheitern, denn, so erzählte Bui später - "denn der Holm war plötzlich ziemlich weit weg".

Als Teil des viertbesten Teams hat Bui noch einmal Chancen auf eine Medaille

Turnende können das tatsächlich: jede einzelne Bewegung, jeden Fehler, jede Sequenz einer Übung im Detail rekapitulieren. Und Kim Bui kann dies besonders gut - nach rund 20 Jahren in der Weltklasse. Sie hatte dabei zwar nicht jene Erfolge für sich erzielt, die in diesem Sport auch mal eine Erwähnung in der Tagessschau abwerfen. Jedoch hat sie das Team mit ihrer soliden Turnkunst über die Jahre immer dabei unterstützt, diese Höchstleistungen zu erzielen.

Nun steht diese Mannschaft abermals in einem Teamfinale und ist als viertplatzierte Nation durchaus in der Lage, nochmal EM-Medaillen im Kollektiv und an Einzelgeräten zu erreichen. Nach der Qualifikation liegen die Riegen aus Italien, Großbritannien und Frankreich vor ihnen. Als Einzelturnerinnen stehen zudem Pauline Schäfer-Betz und Emma Malewski am Sonntag im Schwebebalken-Finale, im Endkampf am Stufenbarren die Deutschen Elisabeth Seitz und Kim Bui. Die Mannschaft ist schon am Samstag ab 14 Uhr dran, und weil in diesem Sport noch viel passieren kann, weiß man zwar ungefähr, wo welche Mannschaft steht, jedoch nicht, wie weit sie sich noch steigern kann. Hier wird eine halbe Drehung mehr eingebaut, dort ein Element dazu, bis es zu riskant wird. Vorher aber sollte man die Grundlagen beherrschen, und dazu, weiß Bui, gehört auch der tadellose Jägersalto.

Wie schafft man es also, in der Luft liegend einen zu kurz angesetzten Flug zu beschleunigen, wenn man keine Propeller auf dem Rücken hat? Normalerweise geht das nicht, es sei denn, eine Turnerin hat schon alles mitgemacht, gesehen und gelernt und überdies eine ganze lange Karriere damit verbracht, an den Grundlagen zu arbeiten, an der Abstimmung und den richtigen Distanzen im dreidimensionalen Raum. Bui hat vor elf Jahren WM-Bronze an diesem Gerät errungen, da war ihre neue Teamkollegin Emma Malewski gerade dabei, erste Rotationen zu probieren. Mit ihrer Erfahrung hat Kim Bui einen Schatz angesammelt, mit dem sie auch ohne Höchstschwierigkeiten über diese lange Zeit fast unverzichtbar war.

Plötzlich war Bui eine Kletterin an einem wackeligen Haken

Der ehemalige Männer-Bundestrainer Andreas Hirsch hatte einst für gewisse Turnerkörper den Begriff der "asiatischen Leichtbauweise" kreiert. Er meinte dabei den Unterhachinger Olympia-Zweiten Marcel Nguyen, der Kraft, Beweglichkeit und Eleganz kombinierte. Auf Bui, deren Mutter aus Vietnam und deren Vater aus Laos stammt, trifft dies auch zu. Und so hatte sie zwar keine neuen Elemente erfunden, die ihren Namen tragen, sie wurde auch nicht über ihren Sport hinaus berühmt, ist aber immer noch fit, was sie auch in dieser Team-Qualifikation gezeigt hatte, die erst am späten Donnerstagabend zu Ende gegangen war.

"Strecken", rief sie also, als sie erzählte, was zu tun ist, wenn einem der obere Barrenholm plötzlich davon fliegt. Bui nahm all die Erfahrung von 20 Jahren in diese Rettungsaktion ihrer Finalteilnahme, die in der Halle zunächst niemand mitbekam, wie auch, es war ja von außen nicht erkennbar. Bui jedenfalls streckte ihren Leichtbaukörper derart, dass ihre Finger den Holm tatsächlich noch zu greifen bekamen, die Sicherungsröllchen rechts und links in ihren Handflächen jedoch falsch lagen. Und so viel weiß Bui nach all der Zeit: "Da kann es kriminell werden." Sie war plötzlich eine Kletterin an einem wackeligen Haken, musste aber noch diesen einen Schwung zu Ende bringen, der sie zum letzten Salto in den Stand brachte.

20 Jahre, so aufgekratzt wie am Donnerstag hatten die Turnreporter Kim Bui selten in einer Mixed-Zone erlebt. Teils war es wohl nur die Erkenntnis, dass für sie von den rund 20 Jahren ihrer Karriere nur noch wenige Tage übrig sind, teils wohl auch, dass sie gerade mit der Streckung den großen Traum von einem letzten Einzelerfolg am Leben erhalten hatte. In diesem Moment gab sie noch einen letzten Einblick in die Befindlichkeit von Athleten, die auf höchster Ebene turnen.

"Es ist ein Bruchteil von einer Sekunde", sagte Bui, "in dem man realisiert: man ist gelandet". Die Fußsohlen berühren die Matte, ganz kurz, das reiche schon, um zu erkennen, dass man stabil ist und nicht mehr umfällt. Es sei ein kostbarer Augenblick, eine große Erleichterung, die aber sogleich wieder verschwindet. Denn im Turnen wird stets Haltung gewahrt, das Kampfgericht gegrüßt, ehe man von der Matte verschwindet. Zweimal noch, dann ist sie endgültig gelandet.

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