Süddeutsche Zeitung

TSV 1860 München:14 Millionen Chancen

Lesezeit: 3 min

1860 trennt sich 1:1 von Sonnenhof Großaspach. Das Spiel zeigt, was Sechzig für höhere Ambitionen fehlt - und wo die Grenzen der talentierten Nachwuchsspieler sind.

Von Gerhard Fischer

In der Comicserie "Die Peanuts" gibt es einen Jungen, der immer von einer Staubwolke umgeben ist. Wäre der turbulente TSV 1860 München eine Comicfigur, er befände sich unter einer Gewitterwolke. Umso entzückter ist das Publikum, wenn der Mannschaft mal die Sonne aus dem Hintern scheint; wenn sie also Glück hat. Als 1860 gegen die SG Sonnenhof Großaspach in Führung ging, durfte man das mit dem Hintern und dem Glück sogar wörtlich nehmen: Daniel Wein schoss einen Freistoß, und der Ball prallte vom Allerwertesten des Mitspielers Tim Rieder in die verwaiste Mitte des Gästetores (12.).

Kurz vor der Pause stellte Jonas Behounek dem Löwen Kristian Böhnlein sehr unbeholfen ein Bein. Es war kein schlimmes Foul, aber ein dummes, denn Behounek attackierte Böhnlein etwa 70 Meter Luftlinie vom eigenen Tor entfernt, also in einer Zone, die für schlaue Fußballer als entmilitarisiert gelten sollte. Zweitens hatte Behounek schon gelb; er flog vom Platz. Das war schon wieder Dusel für die Löwen, man stellte sie bereits in die Reihe bekannter Glückspilze wie Gustav Gans oder Frane Selak, der angeblich sieben Großunglücke, unter anderem einen Flugzeugabsturz, überlebte und schließlich mit 73 Jahren eine Menge Geld im Lotto gewann.

Die Löwen hatten also vor Beginn der zweiten Hälfte drei Vorteile: Sie führten 1:0. Sie spielten in Überzahl. Und sie sind eigentlich stärker als der Drittletzte Großaspach. Doch das Spiel endete 1:1, und man könnte nun einfach sagen: Ist halt Sechzig! Aber man könnte auch nach den Gründen für das Kleinunglück suchen.

Es könnte der Ausfall des Torschützen Rieder gewesen sein, der nach einer halben Stunde mit Kniebeschwerden ausgewechselt wurde, was Statik und Schlagkraft des Mittelfeldes entscheidend veränderte. Trainer Michael Köllner lässt ja mit Raute spielen, gegen Großaspach begannen Rieder, Wein, Dennis Dressel und Noel Niemann, der die offensive Rolle einnahm für den verletzten Stefan Lex. Für Rieder, der bis zur Winterpause fehlen wird, kam Böhnlein. Wein war nun der einzige gestandene Drittligaspieler in der Zentrale, der fortan weder ein geordneter Spielaufbau gelang noch ein aggressiver Zugriff auf die Gäste. Böhnlein ist ein feiner Techniker, aber ein mäßiger Zweikämpfer, weil ihm Tempo und Dynamik fehlen. Der 21-jährige Dressel wird so hoch gelobt, als könne er Eisen biegen, aber im Spiel entpuppt er sich - noch - zu selten als starker Mann. Und Niemann, der 20-jährige Zehner, machte sein erstes Drittligaspiel von Beginn an, weil Köllner gerne dem Nachwuchs Vertrauen schenkt. Niemann sagte nach dem Spiel, er sei "ein bisschen nervös" gewesen, später aber besser geworden. Er war tatsächlich beweglich und bemüht und spielte eine gute zweite Halbzeit. Auf die Frage, ob er, der schmale Mann, Gewicht zulegen müsse, um im Profifußball zu bestehen, sagte Niemann: "Ja, schon, aber wenn ich 100 Kilo wiege, komme ich ja nicht mehr von der Stelle."

Jedenfalls kam es, wie es die Pessimisten (oder sind es Realisten?) unter den Löwenfans zur Pause prophezeit hatten: Großaspach glich rasch aus, und dabei degradierte sich der erste Löwe vom Glückspilz zum Pechvogel: Felix Weber ließ eine Flanke vom Fuß abprallen, und Panagiotis Vlachodimos traf mit dem rechten Fuß aus zwölf Metern ins rechte Eck (52.).

Prince Owusu traf fünf Minuten später mit dem linken Fuß ins rechte Eck, aber Schiedsrichter Max Burda sah den Torschützen im Abseits. Köllner wiederum muss gesehen haben, dass sein unscheinbares Mittelfeld eine Veränderung brauchte, deshalb brachte er den erfahrenen, präsenten Timo Gebhart für Böhnlein, der nach seiner Einwechslung wieder ausgewechselt wurde. Das war bitter für ihn, aber es war richtig. Mit Gebhart und dem später eingetauschten Markus Ziereis als drittem Stürmer zwang 1860 die Gäste in "eine Art Abwehrschlacht", wie SGS-Trainer Oliver Zapel hernach meinte.

Zapel zählte übrigens alle Chancen seiner Mannschaft auf, etwa zwei Kopfbälle von Kai Gehring, dem Kerl mit dem Wikinger-Habitus. Köllner kommentierte das süffisant, schließlich hatte Sechzig etwa 14 Millionen Chancen mehr als Großaspach. Alleine Sascha Mölders, der ein wenig schwächer und viel glückloser war als zuletzt, hatte zwischen der 61. und 65. Minute drei Möglichkeiten, schoss aber vorbei oder ließ sich im finalen Moment von Bösel den Ball vom Stiefel klauen. Die beste Chance hatte Owusu, als er nach einem großartigen Pass von Ziereis den Ball freistehend ans Außennetz ballerte (88.).

Wenn man nach den Gründen sucht, weshalb die Löwen einen möglichen Sieg verdaddelten: Die Chancenauswertung steht weit oben. "Unser Spiel war streckenweise zäh", sagte Köllner noch, "aber immerhin haben wir jetzt acht Punkte Abstand zu den Abstiegsplätzen."

Daniel Wein, der Rieder am Anfang gegen den Hintern geschossen hatte, meinte nach dem Spiel, man habe ohnehin nie nach oben geschaut - also dort hin, wo die Aufstiegsränge sind, die sonnigsten Plätze der dritten Liga. Sie sind sieben Punkte entfernt.

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Quelle:
SZ vom 09.12.2019
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