Süddeutsche Zeitung

Tour-Etappensieger Kittel:28 Millimeter

Lesezeit: 3 min

Mit seinem Etappensieg hakt Marcel Kittel endgültig das verkorkste Vorjahr ab. Im September will er zur WM.

Von Johannes Aumüller

Champagner kann manchmal ganz schön gemein, aber vielleicht auch etwas inspirierend sein. Zu Wochenbeginn in Angers befand sich Marcel Kittel am Etappenabend schon mal in den Räumlichkeiten, in denen die Anwesenden mit dem obligatorischen Siegesgläschen anstießen - aber leider bekam er nichts ab. Das Team des siegreichen Kontrahenten Mark Cavendish war nur zufällig im gleichen Hotel einquartiert. Doch Kittel hat sich nicht lange gedulden müssen, bis auch er in den Genuss eines Schlückchens kam. Am Dienstag in Limoges goss er den Kollegen seiner Etixx-Equipe die Gläser voll, und dann stimmten sie zur Feier des Tages noch einen kleinen Schlachtruf auf den außergewöhnlich fröhlichen Teamkapitän in der Tischmitte an.

Die letzten Meter gingen auch noch bergauf: Marcel Kittel schöpft aus dem anstrengenden und knappen Erfolg Zuversicht für weitere Tour-Etappensiege.

Um Speichenbreite: Bei der Zielankunft in Limoges gegen den Franzosen Bryan Coquard lag Marcel Kittel knapp vorne.

Vor vier Jahren stieß Marcel Kittel, 28, in die Weltelite der Rad-Sprinter vor. Sein Etappensieg in Limoges war bereits sein neunter bei der Tour, aber das war kein Routine-Erfolg, sondern durchaus ein besonderer. Das lag nur in zweiter Linie daran, dass in seinem knappen Duell mit dem Franzosen Bryan Coquard erst das Zielfoto seine 28 Millimeter Vorsprung zu dokumentieren vermochte. Sondern vor allem daran, dass Kittels bis dahin letzter Triumph schon fast zwei Jahre zurücklag - und dazwischen gab es durchaus schwere Zeiten für den Arnstädter.

Aus sportlichen Gesichtspunkten war der Wechsel zu Etixx sinnvoll. Aus Imagegründen eher nicht

Im Vorjahr störte ihn erst eine Erkrankung beim Formaufbau, im Sommer strich ihn sein damaliges Team Giant-Alpecin aus dem Kader für die Frankreich-Rundfahrt. Für die Saison 2016 heuerte er deshalb bei Etixx an. Das war sportlich nachvollziehbar, aber aus Image-Gründen eher nicht die beste Wahl. Kittel findet oft klare Worte zum Thema Doping und kritisiert auch gern die alten Kämpen des Feldes. Aber der Chef bei Etixx ist der Belgier Patrick Lefevere, der schon Regie führte, als das Team - noch unter anderem Namen - während der Epo-Doping-Hochphase das beste des Feldes war. Frühere Fahrer berichteten gar von systematischem Doping, Lefevere stritt das stets ab.

Noch vor dem Wechsel hatte Kittel eine weitere kleine Schwierigkeit zu überstehen. Bei seinem Transfer hat dem Vernehmen nach Rolf Aldag eine wesentliche Rolle gespielt, bei Kittels Vertragsunterzeichnung noch leitender Funktionär bei Etixx. Doch wenig später verließ dieser das Team in Richtung des südafrikanischen Teams Dimension Data um den überraschend wiedererstarkten Mark Cavendish.

Aber das alles hat Marcel Kittel offenkundig bestens verarbeitet. Er stellte seine Vorbereitung um, den Winter verbrachte er wie so viele andere Fahrer in Girona im Nordosten Spaniens, und er hat sich merklich schnell eingefügt ins neue Team. Und so läuft es seit Jahresbeginn bestens: Gesamtsieg bei der Dubai-Rundfahrt, diverse Tagessiege wie bei der Tour de Romandie, zwei Etappenerfolge und ein Tag im Rosa Trikot beim Giro d'Italia - und nun als vorläufige Krönung seiner Rückkehr in die Weltspitze der Sieg in Limoges. "Mir sind Lkw-Ladungen an Steinen vom Herzen gefallen", sagte Kittel. "Das letzte Jahr war ein Mistjahr. Ich wollte mich zurückkämpfen, aber es lief dann hier die ersten Tage nicht so, wie ich es wollte." Zum "wichtigsten Sieg meiner Karriere" erklärte er den Sieg in der ersten Emotion sogar.

Jetzt ist der Druck weg und kann Kittel einige positive Aspekte mitnehmen. Er hat gemerkt, dass sein Team nach einer mitternächtlichen Sitzung nicht mehr ganz so übermotiviert wirkte wie bei den beiden ersten Ankünften. Und er hat sich für sich selbst feststellen dürfen, dass er bei einer sehr schwierigen, weil stramm ansteigenden Ankunft reüssierte, bei der es eher andere Siegkandidaten gegeben hatte.

Kittel hat auch noch ein paar Chancen während der Tour, vielleicht sogar schon an diesem Donnerstag, wenn es nach einem welligen Etappenverlauf in Montauban zu einem Sprint kommen könnte. Danach stehen erst einmal die Pyrenäen und ein paar Tage für die Bergspezialisten an, aber theoretisch hat Kittel bis zum Finale in Paris noch die Möglichkeit, seine starke Quote von 2013 und 2014 (je vier Tagessiege) zu wiederholen. Das Grüne Trikot, einst immer das zweite Ziel aller Sprinter, dürfte wieder nur schwer zu erobern sein, solange Allrounder Peter Sagan im Rennen ist.

Kittel hat fürs Jahr 2016 ohnehin noch ein Ziel vor Augen, das ein paar Tausend Kilometer östlich von Frankreich liegt. Der Kurs bei der Straßen-WM in Katar im September ist für Sprinter bestens geeignet, das ist selten geworden bei den Rennen ums Regenbogen-Trikot. Den letzten richtigen Finalsprint gab es 2011 in Kopenhagen, als Cavendish gewann. Diese seltene Chance will Kittel nutzen, aber da ist er nicht der einzige. Denn neben ihm gibt es im deutschen Kader noch seinen ewigen Rivalen André Greipel. Der hat zwar bisher noch keine Tour-Etappe gewonnen, aber sich ebenfalls in guter Form gezeigt (einmal Zweiter, einmal Vierter). Auf den weiteren Abschnitten dieser Tour geht es also nicht nur um Tagessiege - sondern auch schon um die Frage, hinter welchem Sprinter sich Deutschlands Equipe im Herbst versammeln soll.

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Quelle:
SZ vom 07.07.2016
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