Süddeutsche Zeitung

Standardsituationen der DFB-Elf:Mal mit Krawumm!

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Es gibt Tausende gute Gründe für die Standards: Die deutsche Nationalmannschaft hat Ecken und Freistöße trainiert wie noch nie. Das ist der Vorliebe von Hansi Flick zu verdanken - und Resultat aus den schmerzhaften Ereignissen in der Vergangenheit.

Von Christof Kneer, Santo André

Eine der schönsten Varianten geht so: Es gibt Ecke für Deutschland, in der Mitte stürzen ein paar deutsche Spieler plötzlich in hohem Tempo Richtung Fünfmeterlinie, die gegnerischen Abwehrspieler erschrecken sich fürchterlich und werfen sich der deutschen Übermacht entgegen, und dabei übersehen sie einen anderen Deutschen, der am Strafraumeck lauert und . . .

Vielleicht wird die deutsche Mannschaft auf diese Weise ein Tor erzielen gegen Portugal, vielleicht durchschauen die Portugiesen den Trick, vielleicht kommt er auch gar nicht zum Einsatz. Man kann Ecken und Freistöße wunderbar üben, wenn man will, man kann präzise Choreographien entwerfen und Stürmer anweisen, vor seitlichen Freistößen schnell einen Purzelbaum zu schlagen, um den Gegner zu irritieren, aber man kann sich nicht darauf verlassen, dass es den seitlichen Freistoß im Spiel dann auch gibt. Vielleicht foult der Gegner gar nicht, oder der Schiedsrichter pfeift nicht. Oder vielleicht vernichtet der Schütze die präzise Choreographie, indem er den Ball nur 20 Zentimeter zu weit nach links zirkelt. Das wäre blöd: Der Stürmer macht den einstudierten Purzelbaum, bloß der Ball ist längst schon ganz woanders.

Es gibt bestimmt ein paar Gründe, die sog. Standardsituationen für überbewertet zu halten, aber es gibt mit Sicherheit ein paar tausend Gründe mehr, sie zu hegen und zu pflegen. "Es gibt doch allein in der jüngeren Vergangenheit so viele Beispiele, in denen die größten Spiele durch Standards entschieden wurden", sagt Hansi Flick, der Assistent von Joachim Löw. Flick ist derjenige im Trainerduo, dem tausend Gründe einfallen, Standardsituationen zu hegen und zu pflegen. Löw fallen eher ein paar weniger ein. Seine rhetorische Standardsituation lautet: Er könne das Thema "halt nicht so vollumfänglich bearbeiten wie ein Vereinstrainer".

Die Deutschen: besiegt von Puyols Eckball-Kopfball im WM-Halbfinale gegen Spanien 2010. Noch mal die Deutschen: besiegt von den Italienern im EM-Halbfinale 2012, durch einen Konter nach eigenem (!) Eckball. Die Bayern 2012: mitten ins Herz getroffen vom FC Chelsea und von Drogbas Eckball-Kopfball, im Finale dahoam. Die Bayern 2014: rausgerammt aus der Champions League von Sergio Ramos von Real Madrid. Und noch mal Ramos, jüngst im Mai: Champions-League-Finale gegen Atlético gedreht, durch einen Kopfball.

An diesem Montag startet die deutsche Nationalelf in die WM, es ist seit Jahren das erste Mal, dass sie mit vollständiger Ausrüstung ins Turnier zieht. Die letzten Male hat sie stets versucht, ihre Kämpfe mit nur halber Bewaffnung zu gewinnen, auf die Standard-Waffe hat sie meist freiwillig verzichtet. Das ist Löws Ansatz: Er will am liebsten gewaltlos siegen, mit geräuscharmen, schnell hingetupften Pässen, am liebsten ohne den Krawumm!-Sound, den ein sog. Freistoßkracher oder ein sog. Kopfballtorpedo verursacht.

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass die WM in Brasilien ein klares Ziel verfolgt: Sie versucht, den Romantiker Löw in einen Realo zu verwandeln. Die WM bedient sich dabei der Hilfe des pragmatischen Assistenten Flick, der gemeinsam mit dem Vorgesetzten Löw Standards trainieren ließ wie noch nie. Schon im WM-Camp in Südtirol haben sie eine geheime Trainingseinheit namens "Standard Competition" eingelegt, sie haben die Spieler "mit ins Boot genommen", wie Flick sagt.

Sie haben wie in der Schule ein paar Gruppen eingeteilt, sie haben die Gruppen herrlich altmodisch mit Zetteln und Stiften ausgerüstet und ihnen eine Viertelstunde Zeit gegeben, sich ein paar Varianten einfallen zu lassen - offensive, um den Gegner zu überrumpeln; defensive, um klare Zeichen zu vereinbaren, wer welchen Raum und/oder Gegner übernimmt. Das Ergebnis: Die Trainer waren beeindruckt vom Ideenreichtum der Spieler. "In den Testspielen gegen unsere U20 haben wir die Varianten auch eingeübt, da haben sie gut geklappt", sagt Flick.

In Brasilien haben sie nun noch mal eine erweiterte Form der Standard Competition ins Programm genommen, "eine spielnahe Variante", wie Flick sagt. Sie haben das Spiel nach erfolgtem Eck- oder Freistoß noch einen Spielzug weiterlaufen lassen, sie wollten einen schnellen Konter und/oder Gegenkonter sehen.

Die Sinne seien "jetzt geschärft", sagt Hansi Flick, die Spieler "mit in der Verantwortung". Alle zusammen haben sie eine präzise Grundlage erarbeitet, die sie, je nach Gegner, weiter verfeinern können.

So werden sie das Raumdeckungs-Prinzip bei gegnerischen Standards gegen Portugal etwas aufweichen: In ihren Analysen haben sie Innenverteidiger Bruno Alves als Zielspieler erkannt, und den werden sie jetzt manndecken.

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Quelle:
SZ vom 16.06.2014
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