Süddeutsche Zeitung

Spanien:Nur noch Achttausender

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Fahrlässig verlässt der Titelverteidiger die bequeme Route durchs Turnier. Im Achtelfinale wartet nun Italien, danach drohen Deutschland, England oder Frankreich als Gegner.

Von JAVIER CÁCERES, Bordeaux

Da saß nun also Vicente del Bosque, 65, der Trainer der Spanier, im Presseraum des Stadions von Bordeaux und musste hilflos ertragen wie ihm der Schweiß über die Stirn rann, an den Schläfen entlang, auf die Nase. In dicken, schweren Tropfen. Es fand sich keiner weit und breit, der ihm ein Taschentuch reichte, um den Fluss zu bremsen. Niederlagen haben bei del Bosque stets die Transpiration angeregt, einerseits. Andererseits: So häufig kommt es nicht vor, dass Spanien verliert.

In Bordeaux war es erstmals seit 2004 wieder so weit. Damals hatte Spanien letztmals bei einer Europameisterschaft verloren, in Lissabon mit 0:1 gegen Portugal. Seither waren die Spanier in EM-Endrunden bis zum Dienstag in 14 Spielen ohne Niederlage, sieben verliefen ohne Gegentor. Nun unterlag der Europameister von 2008 und 2012, der Weltmeister von 2010, jene Mannschaft, die zuvor in Frankreich spielerisch überzeugt hatte, gegen Kroatien mit 1:2. Der Betriebsunfall ließ die Stimmung so dermaßen in "Unbehagen" umschlagen, wie del Bosque konzedierte, dass er sich herausgefordert sah, eine wesentliche Nachricht in Erinnerung zu rufen: "Wir sollten nicht vergessen, dass wir für die nächste Runde qualifiziert sind."

Schwarzer Abend für den Kapitän: Zuerst muss Sergio Ramos (rechts) nach dem 1:1 Vorhaltungen von Torwart David de Gea über sich ergehen lassen...

...und dann platzierte Ramos den Elfmeter so schlecht, dass Torwart Danijel Subasic parieren konnte.

Das 2:1 für Kroatien kam, als 87 Minuten gespielt waren, "und wir eigentlich die Partie ganz gut unter Kontrolle hatten", sagte del Bosque: "Ich fühle mich in der Pflicht, unser Spiel zu verteidigen, wir haben nicht alles schlecht gemacht."

Manchmal aber zählt doch nur das Resultat. Und das bedeutete, dass Ivan Perisic mit seinem Kontertor die Spanier auf eine Route beförderte, die sie gern umgangen hätten. Anstatt gegen Gegner wie Polen oder Wales, die sich noch am ehesten vom Image von "La Roja" beeindrucken lassen dürften, geht es nun schon am Montag im Achtelfinale in Saint-Denis gegen Italien. Danach drohen Deutschland, Frankreich, England. Im Weg stehen nun mehr Achttausender als im Himalaja-Gebirge, so zumindest fühlt es sich für die Spanier an. "Wir müssen mit den Favoriten tanzen", sagte Kapitän Sergio Ramos.

Klar, bei den insgesamt drei EM-Duellen von 2008 und 2012 gab es zwei Siege und ein Remis gegen die Italiener, im Finale von Kiew demütigten die Spanier die Azzurri gar mit einem 4:0. Auch deshalb ist die Lage nicht mehr so wie vor 2008, als das Azur der italienischen Trikots bei den Spaniern schlimmere Schmerzen weckte als ein Backenzahn, der sich in die Wange bohrt. Einerseits. Andererseits: Italien ist halt Italien. "Sie haben ihren defensiven Tugenden Fußball beigemengt, sie wollen nun den Ball halten", sagte der immer bleiche Andrés Iniesta, der gegen Kroatien auch im übertragenen Sinne blass geblieben war, voller Respekt. Hinzu kommt, dass Spanien jetzt sechs spielfreie Tage überbrücken muss. Sechs Tage, an denen über alles Mögliche nachgedacht und debattiert werden kann - als würde einem die Zahnarzthilfe eröffnen, der nächste Termin sei erst in vier Wochen frei.

Sergio Ramos tritt übermotiviert zum Elfmeter an, verschießt - und wird philosophisch

Anlass für Debatten hinterließ das Duell mit den Kroaten zuhauf, mehr noch: Die Niederlage öffnete die Büchse der Pandora. Hat sich Trainer del Bosque verzockt, als er seinem Instinkt folgte und zum dritten Mal dieselbe Startelf spielen ließ? Zu reden wäre aber auch über die grobe Fahrlässigkeit, durch die die Spanier einen mit Rosen bedeckten Weg ins Finale gegen eine Route voller Schlaglöcher eintauschten.

In Minute sieben war Spanien nach schöner Kombination von David Silva und Cesc Fabregas in Führung gegangen, den Ball über die Linie drückte Alvaro Morata. Und danach, sagte del Bosque zu Recht, hatten die Spanier das Spiel "eigentlich unter Kontrolle". Nur: Erstens partizipierten die talentierten Kroaten wie zuvor weder die Tschechen (1:0) noch die Türkei (3:0) am Spiel, sie kamen zu allerlei Chancen; Ivan Rakitic traf einmal mit einem Heber gar erst die Latte, dann den Pfosten. Zweitens: Die Spanier verschwendeten beste Chancen. Morata versprang der Ball, als er solo vorm Tor stand; Kroatien hingegen traf durch Nikola Kalinic kurz vor der Halbzeit.

Aber auch dieses 1:1 hätte zum Gruppensieg gereicht. Zu reden wäre deshalb - drittens - über den Fehlschuss von Innenverteidiger Sergio Ramos (72.) nach einem schmeichelhaften Elfmeterpfiff. Denn Ramos riss die Ausführung an sich, obwohl sich technisch bessere Spanier und vor allem sicherere Schützen angeboten hatten. Ramos, beseelt von der Idee, als Kapitän auch die Heldenrolle zu übernehmen, schoss Torwart Danijel Subasic den Ball auf den Körper. "Nur der, der schießt, kann auch verschießen", philosophierte er.

Dumm nur, wenn die Partie doch noch verloren geht. Auf eine Weise, über die - viertens - zu reden wäre. Denn das Tor von Perisic fiel zu einem Zeitpunkt, da nicht nur del Bosque das Gefühl hatte, dass die Kroaten "das Unentschieden akzeptieren würden". Und die Spanier schon felsenfest damit kalkulierten, dass das Remis reicht. "Natürlich hast du das im Kopf", sagte der da bereits ausgewechselte Nolito.

Was dann geschah, "darf nicht passieren", wie del Bosque feststellte. Perisic stach auf der Seite durch, die der Rechtsverteidiger Juanfran von Atlético Madrid bewachen sollte. Der aber suchte in der gegnerischen Hälfte den Glorienschein, anstatt sich auf die Pflichten zu besinnen. In der Innenverteidigung waren Ramos und Piqué in der Rückwärtsbewegung mit dem Konter überfordert. Dass Perisic den von Piqué unglücklich mit der Sohle abgefälschten Ball nah am vorderen Pfosten unterbrachte, ließ zudem Torwart David de Gea schlecht aussehen. "Wir sollten jetzt nicht nach einem Sündenbock suchen. Wir sind alle schuldig", sagte del Bosque, ehe er sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn fuhr, den Presseraum verließ, und die Spieler begannen, sich ihren Weg zum Bus zu bahnen. Dabei versuchten sie, der Perspektive auch Positives abzugewinnen.

Iniesta erklärte, dass die Spanier "viele Optionen haben, weiterzukommen, wenn wir das Niveau abrufen, das nötig ist". Auch Juanfran verbreitete Hoffnung. "Gegen mächtigere Rivalen werden sich die Fans mehr amüsieren", bekundete er, "und die Italiener werden auch nicht froh sein, uns zu sehen." Wohl wahr. Die Gazzetta dello Sport schickte bereits ein Flehen hinaus in die Welt: "Mamma, Spanien!"

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SZ vom 23.06.2016
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